ZEHN

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„Freya war in den jüngsten Jahren nicht bloß eine Königin, nein. Sie war eine Göttin und eine Kriegerin. Sie wanderte durch das ganze Land und traf auf vier weitere Götter. Dem ersten Gott begegnete sie hinter Wäldern und Gewässern. Wälder und Gewässer, die ihr eigenes Schaffen sind. Das Schaffen einer Hexe", übersetzt Lurra ihr mühsam.

Sie sitzen draußen und Misa hat Lurra drum gebeten, ihr mit den paar Zeilen aus dem Buch zu helfen.

„Man hörte selten, dass Menschen sich dort hintrauten und wenn man es tat, hörte man nie, dass sie zurückkamen. So verschwand auch sie mit ihrem Begleiter an diesen Ort. Die Natur und die Menschen waren freundlicher als sonst wo. Niemand kam von da zurück, weil man nicht zurückkehren wollte. Denn der beste Weg, einen Gefangenen eingesperrt zu lassen, ist es, ihn nicht wissen zu lassen, dass er gefangen ist", beendet Lurra den Abschnitt. Weder Misa noch Lurra können mit der Übersetzung etwas anfangen.

Misa schnalzt genervt mit der Zunge und lehnt ihren Kopf zur Seite.

„Das heißt doch, dass sie an diesem Ort auf eine Hexe gestoßen sind? Also der erste Gott muss doch dann Wasser beherrscht haben?", hinterfragt Lurra, die auch versucht zu verstehen, was genau in diesem Buch geschieht.


Misa weiß zwar, dass früher Menschen als Hexen bezeichnet wurden, die anderen mit ihrer Gabe des Wassers schadeten, aber es gibt schon seit Jahrzehnten keinen mehr, der dafür bekannt ist, es so einzusetzen. Dies liegt aber auch daran, dass ihr Vater diese Praxis mit dem Tode bestraft. Nur noch vom König selbst ausgesuchte Menschen dürfen dieses Element anwenden.

„Ja, also hat uns das Buch bloß in eine Sackgasse geführt. Und dafür hat Ean sein Leben riskiert", kommt es deprimiert und enttäuscht zugleich von Misa. Sie verdeckt mit ihren Händen ihr Gesicht und versucht ihr Bestes, ihre Tränen zu unterdrücken. Eine Berührung auf ihrer Schulter lässt sie wieder ihren Blick nach oben richten. Lurra schaut sie mit einem bemitleidenden Blick an und nimmt sie im selben Moment noch in den Arm. Etwas, womit Misa ganz und gar nicht gerechnet hat.

„Misa, Wasser kann mit leichtesten und Schmerz losesten Mitteln töten, aber auch heilen. Und wenn es eine der zwei Sachen gibt, die ich beherrsche, dann ist es zu heilen. Das besonders, wenn Wasser überhaupt dran Schuld hat. Ean wird bald wach werden, vertrau mir", beruhigt sie Misa, die sie nach den Worten noch fester drückt.

Es vergeht eine Woche, in der Misa bloß auf Ean wartet und die Menschen im Dorf kennenlernt. In der Zeit realisiert sie immer mehr und mehr, wie ähnlich sie Lurra doch ist.

„Lurra!", ruft Misa, als sie an ihr vorbeiläuft, ohne sie zu sehen. Mittlerweile hat Misa sich im Ayan eingelebt, auch wenn die Sorgen um Ean sie innerlich auffressen. Seit sie aufgewacht ist, ist schon eine weitere Woche vergangen und Eans Zustand hat sich kaum gebessert.

Lurra bleibt stehen und dreht sich zu Misa. Sie sah in dieser Wochen regelmäßig, wie die Menschen hier von einem Tag auf den anderen, verschiedene Haarfarben hatten. Und auch Lurras Haare hatten ein paar helle Strähnchen im Laufe der Woche bekommen. Misa geht auf Lurra zu und zusammen laufen sie, weiter in die Richtung in die Lurra hinwollte.

„Wie macht ihr das mit den Haaren?" Lurra schaut daraufhin mit einem fiesen Lächeln zu Misa.
„Was, wenn ich die sage, das ist Hexerei?", gibt Lurra von sich und bekommt ein etwas eingeschüchterten Blick von Misa.
„Könnte ich denn was tun?", entgegnet Misa ihr. Lurra bleibt stehen und schaut zu ihr. „Eher nicht."

Ein kurzer Moment der Stille kommt auf. Beide sagen nichts, das Einzige, was die beiden hören, sind die Kinder, die im Hintergrund spielen. Dann schaut Lurra von ihren Haaren zu Misas rüber. „Willst du etwa eine andere Haarfarbe?", hinterfragt sie im nächsten Moment und Misa überlegt kurz. „Hält das für immer?" Auf Lurras Gesicht bildet sich ein Lächeln und sie schüttelt den Kopf.
Eine kurze Weile später sind die beiden in Lurras Hütte und sie mischt irgendetwas in einer kleinen Schüssel an.
„Es hat nichts mit Hexerei zu tun", erklärt sie Misa, bevor sie anfängt es in ihren Haaren zu verteilen. „Es sind bloß Farbmittel, die man auf der Insel findet, zum Beispiel Kaffeepulver. Bloß habe ich gelernt, es richtig mit Wasser aufzubereiten, damit es länger hält. Also etwas Magie steckt da schon drin."

Und es dauert nicht lange, bis Misas hellen Haare einen braunen Ton besitzen. Fast schwarz, wenn sie nicht in der Sonne ist. Im Spiegel betrachtet sie sich, fasst begeistert durch die Haare und versucht sich wiederzuerkennen, doch egal wie lange sie sich anstarrt, sie findet sich nicht wieder. Sie schaut zu Lurra, die sie mit einem weiten Lächeln anschaut. „Mach dir nicht allzu viele Gedanken. Zu einem musst du dich dran gewöhnen, aber die Farbe geht schneller raus als du denkst."

Tage vergehen und doch bleibt die Stille um Ean unverändert. Jeden Morgen bringt Misa alle Kräuter, die Lurra braucht, in die Hütte, mit der Hoffnung, ihn an einem Morgen wach anzutreffen. Doch Tag für Tag verliert sie die Hoffnung. Sein Arm ist mittlerweile verheilt, doch er ist weiterhin bewusstlos. Lurra versucht inzwischen die Heilmethoden ihrer Großmutter an ihm, doch auch das zeigt keine Wirkung. Also lebt Misa weiter. Sie versucht, sich im Dorf einzuleben, solange sie auf ihn wartet. Sie lernt die Kultur besser kennen und kommt auch Lurra näher. Auch sie beginnt, sich ihr mehr und mehr anzuvertrauen. Misa hat das erste Mal im Leben das Gefühl, eine echte Freundin an ihrer Seite zu haben.

Die Nächte werden zu einem bittersüßen Ritual, wenn Misa wieder Eans Seite aufsucht. Die Stille der Dunkelheit wird nur von dem leisen Schluchzen einer gebrochenen Hoffnung durchbrochen. Der einzige Unterschied zu den anderen Abenden ist das Gewitter, das über Ayan aufzieht.

Misa macht sich diesmal früher zurück in Lurras Hütte, in der sie die Nächte verbringt. Doch sie hat gar nicht erst die Möglichkeit, einzuschlafen. In der Nacht hört man Gebrüll von den Menschen außerhalb. Beide springen direkt auf und machen sich auf den Weg.
Es regnet immer noch in Strömen und beide werden in Sekunden komplett nass. Im nächsten Moment wird Misa klar, woher das Gebrüll kommt. Es ist die Hütte, in der Ean verweilt.

„Wo ist die Prinzessin?", hört man seine Stimme wütend brüllen. Die beiden schaffen es gar nicht erst in die Hütte, als Ean schon herausgeschossen kommt. Kräftige Männer versuchen, ihn festzuhalten, scheitern jedoch vergebens. Misa schaut zu ihm, auch sein Blick landet auf ihr. Er wird ruhiger, jedoch sieht man ihm an, dass er die Situation immer noch nicht begreift. Die Männer halten ihn immer noch fest, doch er entreißt sich jedes Mal aufs Neue.
„Lasst ihn los", befehlt Lurra den Männern. Diese handeln sofort auf Befehl und Ean bewegt sich langsam in Misas Richtung. Lurra stellt sich jedoch zwischen die beiden, bevor er ihr ganz nahekommen kann.
„Ich erlaube dir erst, dich Misa zu nähern, wenn du dich endgültig beruhigt hast."

Das Herz von Misa schlägt wild in ihrer Brust, als sie die letzten Schritte auf Ean zugeht. Die Spannung in der Luft ist greifbar, elektrisch geladen wie das Gewitter, das sich über ihren Köpfen zusammenbraut.
Zwischen den beiden steht nur noch Lurra und die geritzte Spannung zwischen ihr und Ean spitzt sich zu und so führt sich auch das Gewitter auf.

Die Blitze zucken bedrohlich vom Himmel, begleitet von peitschendem Donner, der die Luft erzittern lässt. Sie schlagen in Hütten ein und ein weiterer Blitz schlägt genau neben Lurra und Ean ein, während die beiden sich reaktionslos anschauen.

Misa spürt das Prickeln auf ihrer Haut, die Hitze der Energie, die durch die Luft schneidet. Sie sieht die Gefahr, die in der Luft liegt, doch der Fokus ihrer Aufmerksamkeit liegt allein auf Ean und Lurra.

Das Chaos um sie herum steigert sich, Feuer tanzt über die Erde, während Wasser in wilden Strömen herab prasselt und die Flammen zu ersticken droht. Doch trotz der Zerstörung, die um sie herumtobt, ist Misa wie erstarrt, ihre Augen fixiert auf die Gestalten vor ihr.

„Du bist die Göttin aus dem Buch", flüstert Misa, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch, doch erfüllt von einer tiefen Gewissheit. Sollte sie etwa den ersten Gott an genau diesem Ort finden?

Lurra tritt auf diese Erkenntnis direkt ein Schritt von Ean zurück und das Gewitter wird ruhiger. Ean schafft es, die restlichen Schritte auf Misa zuzumachen und streift mit seiner Hand leicht durch ihre Haare. Er schenkt Lurra keine weitere Beachtung und seine gesamte Aufmerksamkeit liegt auf Misa. Ihn scheint es nicht einmal zu interessieren, was Misa gerade eben herausgefunden hat.

„Ihr seid nicht wiederzukennen, Prinzessin."
Das Gewitter stoppt und es prasseln nur noch wenige Regentropfen runter. All die Sorgen und Ängste, die sie belastet haben, scheinen von ihren Schultern zu gleiten, während sie Ean vor sich stehen sieht. Doch nun stellt sich die Frage um Lurra. Sie schaut immer noch bloß verwirrt zu den beiden, auch wenn Ean sie gekonnt ignoriert. „Wie lange war ich weg?", fragt er Misa in einem ruhigen Ton.

Misa seufzt. „Es ist heute nun ein Monat her, dass ich aufgewacht bin."

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