ZWÖLF

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Das Boot schwimmt seelenruhig auf dem Wasser. Noch nie hat Misa dieses Gewässer so still gesehen, wie am heutigen Tag. Lurra sitzt konzentriert in der Mitte des Bootes und lässt das Wasser die drei zum Ufer treiben. Es dauerte nicht lange und sie stehen wieder an Land.

Lurra fasst zum Schluss nochmal ins Wasser und die Wellen schießen hoch. „Sollte jemand Fremdes, der nicht zu Dorf gehört, dieses Gewässer versuchen zu überqueren, wird er ganz einfach verschlungen. Ich bin es ihnen zumindest schuldig, sie weiterhin zu beschützen."
Misa schaut schweigend aufs Wasser, was sich jedes Mal schneller bewegt, wenn sie ihm näherkommt. Auch in ihr sieht Lurra wohl eine mögliche Gefahr.

„Und wie stellt ihr euch nun vor, in Knyx den Gott der Erde zu finden?", fragt Lurra die beiden. Misa und Ean schauen sich beide an und zucken bloß mit den Schultern.
„Wenn wir jemanden finden, der uns das Buch übersetzen kann, sollten wir den nächsten Gott ganz schnell finden", schlägt Misa vor und Ean nickt.
„Das heißt, wir klappern einfach mal die Städte von Knyx ab und hoffen jemanden zu finden, der die alte Sprache noch spricht?", hinterfragt Lurra Misas Idee und bekommt nur ein einstimmiges Nicken der beiden.

„Euch ist schon bewusst, dass es ziemlich auffallen wird, wenn wir überall nach einem Dolmetscher herumfragen? Diese Sprachen werden nur noch von den ältesten gesprochen, beziehungsweise gebraucht und besonders in Knyx wird es schwer, jemanden, der diese Sprache noch spricht, zu finden. Wenn wir Glück haben, finden wir noch einen Elder in einem kleinen Dorf, aber unsere Suche wird schnell die Runde machen." Ean jedoch widerspricht ihr sofort.
„Die Prinzessin ist nun mehr als ein Monat verschwunden. Auch wenn wir auffallen, niemand wird sich für eine Gruppe Reisende interessieren. Misa hat dunkles Haar und solange wir nicht in Esmeraya sind, werde ich auch nicht erkannt." Lurra verstummt kurz und überlegt.
„Esmeraya? Die Feuernation hat sich einen neuen Namen gegeben?", wundert sie sich. Ean nickt mit einem Seufzen.
„Die Politik dort ist momentan sehr kompliziert und ich denke, ich habe es meinem Vater durch mein Verschwinden noch um einiges schwieriger gemacht. Besonders da er jetzt keinen Nachfolger mehr hat", er schweigt kurz.
„Außer meiner Schwester, die er nicht anerkennen wird", ergänzt er.

Er schaut währenddessen schon auf die Karte, in welche Richtung es gehen wird, um Knyx schnellstmöglich zu erreichen.
Im Dorf hat Lurra die beiden mit traditioneller Kleidung ausgestattet. Misa versteckt mit einem Tuch zum Teil die Haare und trägt ein dünnes Gewand, das bis zu ihren Knöcheln reicht. Ean trägt einen Mantel aus dünnem Stoff. Eine leichte breite Stoffhose und ein breites Oberteil darüber. Das Einzige, das verrät, dass Misa nicht von hier ist, ist ihre viel zu helle Haut. Auch nach einem Monat in Uminya ist ihre Haut noch kreidebleich. Hingegen ist Lurras und Eans Haut, schön braun gebräunt, wie von der Sonne geküsst. Während Lurras Haut in einem wunderschönen goldbraunen Ton in der Sonne scheint, hat Eans Haut einen helleren braunen Unterton.

Als die drei sich ein Lager aufschlagen, ist der Abend bereits angebrochen. Sie haben einen sehr langen Marsch hinter sich gebracht, ohne Pferde oder jegliche Hilfe, und sind noch drei Tagesmärsche von Knyx entfernt. Im schlimmsten Fall können es noch fünf Tage werden, sollten die Wege in den Bergen blockiert sein. Leider gibt es auf dem gesamten Weg keinen Fluss, den man entlang schwimmen könnte. Dies ärgert besonders Lurra, die hofft, dass der Aufenthalt in Knyx so schnell wie möglich vorbei sein wird.

Die drei machen sich ein Lagerfeuer und braten das an, was sie mithaben. Während Ean sich ein Stück Fleisch anbrät, sieht Lurra bloß entsetzt zu.
Auch Misa verzichtet ihr zuliebe heute mal auf das Fleisch, stattdessen schält sie Kartoffeln und schneidet das Gemüse klein.

„Ean, kannst du mir erklären, was in Esmeraya los ist? Ich würde gerne die momentane Situation der Nationen verstehen?", fragt Lurra Ean, der gerade seinen Mund voll hat. Er nickt und schluckt erstmal runter, was er noch im Mund hat.
„Mein Vater versucht, näher in die Innenpolitik hineinzukommen. Deswegen war er auch sehr stark dafür, dass ich die Prinzessin heirate. Mit der ganzen Veränderung, die er in der Feuernation anstrebt, erhofft er sich, dem Regime näherzukommen. Er setzt sich für die Dinge ein, die König Ryuu Lewenstein sehen will und ist dadurch auch einer seiner vertrautesten geworden", erklärt er ihr. Sie hört ihm aufmerksam zu, während Misa schon am Feuer eingeschlafen ist.

„Die Namensänderung geschah, um ein Zeichen zu setzen, dass die Feuernation nicht mehr die rebellische Nation von früher ist."
Lurra sagt nichts. Sie kennt die Außenwelt bloß durch die Geschichten ihres Vaters. Was die letzten drei Jahre in der Außenwelt geschehen ist, weiß sie nicht. Sie ist abgeschottet von den restlichen Menschen gewesen. Die Welt, die sie nun zu sehen bekommt, zeigt ihr etwas Neues, was sie bloß aus Büchern und Erzählungen kennt. Ihr ist die letzten 20 Jahre nur die Geborgenheit von zu Hause bekannt gewesen.

„Aber wer wird denn der nächste Clan-Anführer, wenn du es nicht übernimmst?" Ean zögert auf die Frage hin.
„Wenn mein Vater es endlich einsieht, wird es meine Zwillingsschwester." Lurra sagt nichts mehr dazu. Dafür versteht sie die Politik noch nicht genug. Ihr Vater war ein Reisender, der trotz allem seine Leute vor der Außenwelt schützen wollte. So wie es sein Großvater und Urgroßvater tat.

„Das sind Dinge, die ich vermutlich nie verstehen werde", entgegnet sie ihm nach einer Weile der Stille. Er schaut sie irritiert an. „Was meinst du?"
Auf ihrem Gesicht bildet sich ein schiefes Lächeln.
„Wieso deine Schwester nicht einfach deinen Platz übernehmen kann. Oder wieso ein Bastard Kronprinz ist. Ich will es nicht verstehen. Wenn Legenden über eine Königin sprechen, die all das überhaupt erst aufgebaut hat, wieso sollte Misa so etwas nicht auch schaffen?" Ean seufzt und sein Blick gleitet zum Boden, denn jeder, der es verstehen will, sieht es früher oder später. Frauen sind nicht erwünscht in diesen Positionen. Die erste und letzte Königin, die auf dem Thron saß, war Freya. Eine Frau, die als Göttin betitelt wird.

Aber ist bloß eine Göttin in der Lage, eine solche Kraft zu erbringen, um auf dem Thron zu sitzen? Kann nicht auch Eans Schwester genauso stark sein wie er? Wieso sollte der Titel nur den Männern zustehen? 

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