FÜNF

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„Hier gibt es sogar ganz andere Früchte. Die haben wir nicht einmal im Schloss", gibt Misa begeistert und zugleich unbedacht von sich. Ean gibt ihr einen leichten Schlag gegen den Kopf und Misa legt ihre Hand an die betroffene Stelle. Ihr Blick wandert genervt zu ihm.
„Das hätte nicht sein müssen." Er zuckt mit seinen Schultern und dreht sich zum Stand auf der anderen Seite. Beide schauen sich um und Misa kauft ein wenig Proviant, bevor die beiden sich entscheiden in eine Taverne zu gehen, um etwas zu essen.

Als sie die Taverne betreten, zieht der Geruch von köstlichen Speisen ihnen direkt in die Nase. Um sie rum ein lautes Stimmengewirr und sie sind nur zwei ruhige Gäste inmitten einer lauten Menschenmenge.
Während Ean seine Kapuze abnimmt, um nicht weiter aufzufallen, muss Misa ihre aufbehalten.
Dass die Frau auch in der Taverne die Kapuze aufbehält, ist nichts Auffälliges. Männer, die ihre Frauen vor der Öffentlichkeit verbergen sind im Norden nichts Außergewöhnliches, doch in Uminya wird dies anders gesehen. Die Frauen lieben es sich zu präsentieren und auch die Männer lieben es ihre Frau der Welt offen zu zeigen.
An der Grenze wird Misa noch nicht besonders herausstechen, doch wenn sie sich entscheiden, weiter in den Süden zu gehen, muss bald eine andere Lösung her. Und nun stellt sich auch die Frage; „Was ist unser Ziel?"

Misa überlegt einen Moment, bevor sie das Buch aus ihrer Tasche holt, dass ihre Mutter ihr gegeben hat. Sie platziert es auf dem Tisch zwischen ihnen und blickt zu Ean hinüber, während er es auf der gegenüberliegenden Seite betrachtet. Als sie es ansieht, fällt ihr Blick auf das seltsame Symbol, das auf dem Einband versehen ist.
Das Symbol ist ein Kreis, in dessen Mitte eine vertikale Linie verläuft. Die Linie beginnt auf der rechten Seite des Kreises, verläuft nach unten und führt dann nach oben. Misa sieht so ein Symbol zum ersten Mal. Auch Ean kommt es nicht bekannt vor.

„Ich verstehe die Sprache nicht, auf der es geschrieben ist, aber Mama hat es mir mitgegeben", erklärt sie. Ean klappt es auf und blättert es, ohne zu zögern auf die Schnelle durch. Das Buch ist in mehrere Kapitel geteilt und jedes ist auf einer anderen Sprache. Manche haben sogar nur den Titel des Kapitels gegeben, ohne Inhalt, bloß mit leeren Seiten.

Alle Provinzen haben eine eigene Sprache, doch die verstehen mittlerweile nur noch die ältesten. Man beschloss nach der Vereinigung der Clans, dass es eine gemeinsame Sprache geben muss und diese ist Celestisch.
„Leider war Papa dagegen, dass ich, wie meine Großeltern, die alten vier Sprachen beherrschen sollte", kommt es seufzend von Misa, die sich gelangweilt mit dem Ellbogen auf dem Tisch stützt.
„Was ziemlich ironisch ist, da dein Bruder ungewollt alle Sprachen lernen musste. Ich weiß noch, wie ihn das verärgert hat", entgegnet ihr Ean, als er durch das Buch blättert.
„Die wenigsten Provinzen, schulen der neuen Generation noch die Ursprachen. Eigentlich ist dieses Wissen nicht einmal mir vonnöten", versucht Ean Misa etwas aufzuheitern, doch Misa weiß genau, dass es nicht so einfach ist.

Es gibt noch viele Dörfer, in denen selbst die neue Generation auf ihrer herkömmlichen Sprache spricht, auch wenn dies immer seltener wird. Selbst Ean beherrscht seine Muttersprache noch. In Esmeraya, seinem Geburtsort, ist die Geschichte und Kultur bis heute sehr wichtig. Der Feuerclan ist die stärkste und größte Provinz und die Menschen schätzen dort noch die alten Lebensformen. Umso mehr stört es Misa, dass sie keine weitere Ursprache beherrscht.

„Ich habe es!", kommt es begeistert von Ean, als er auf seine Muttersprache trifft. Langsam geht er durch den Text und tut sich schwer, das erste Mal seit langem wieder diese Schrift zu entziffern.

Durch die Zeit im Schloss ist er faul geworden, hörte auf, sich mit seiner Kultur und Herkunft zu beschäftigen. Nach dem Streit mit seinem Vater wollte er am liebsten vergessen, woher er kam. Doch nach längerer Zeit schafft er es doch noch, alle Sätze zu übersetzen.

„Das Buch erzählt über die Göttin Freya und ihre Wiederauferstehung. Es ist wie eine Einführung in eine Legende, die noch nicht vorbei ist. Viele Dinge verstehe ich weniger als andere, doch so viel kann ich sagen, das letzte Wort in dem Kapitel ist der Name des Dorfes Ayan", erklärt er und packt im nächsten Moment die Karte aus seiner Tasche und schaut sich an, wo das Dorf liegt. Ein Seufzer verlässt seine Lippen.

„Bevor wir überhaupt darüber reden, wie weit Ayan entfernt ist. Was ist euer Ziel? Wollt Ihr euch zurücklehnen und bloß ein gewöhnliches Leben führen? Oder habt Ihr einen anderen Plan?"
Sie schaut vom Buch zu ihm hoch und überlegt kurz. Doch sie weiß selbst nicht genau, was sie will. Ein entspanntes Leben kommt für sie nicht infrage. Das ist der Grund, wieso sie aus dem Schloss hinauswollte. Sie hasst die Vorstellung davon, zu heiraten und ihr Leben der Erziehung ihrer Kinder zu widmen. Sie will mehr, will am liebsten den Menschen helfen, doch dazu hatte sie nie die Möglichkeit.
Politik ist schon immer interessant für sie gewesen, doch was soll sie tun, wenn sie aus diesen Themen ausgeschlossen wird.

Ean zögert, bevor er noch etwas hinzufügt, was Misa leicht zusammenzucken lässt; „Oder wollt Ihr doch den Thron?"
Er sagt es in einem leise gesprochenen Ton, sodass nur sie in der Lage ist es zu hören. Aber sie versteht direkt, dass er auch bei dieser Entscheidung auf ihrer Seite wäre.
„Dies wäre Hochverrat. Allein für den Satz könnte es dich dein Kopf kosten", entgegnet sie ihm nach einem kurzen Moment des Schocks.
„Und es würde zu viele Leben kosten." Sie realisiert erst, nachdem sie es ausgesprochen hat, welche Schwere diese Worte tragen.
Es ist nicht so, als hätte sie es sich nicht gewünscht, diejenige zu sein, der der Thron zugesprochen wird. Doch sie weiß genau, hätte sie dies jemals ausgesprochen, würde eine Zwangshochzeit ihr geringstes Problem sein. Aber nein. Misa will doch etwas anderes.

„Ich möchte, dass jeder über die wahre Geschichte des Königreiches erfährt. Ich will den Menschen, die in der jetzigen Zeit leiden, helfen. Und ich will die Wahrheit über dieses Buch herausfinden. Würde ich mir ein ruhigeres Leben wünschen, könnten wir jetzt noch ins Schloss zurückkehren."
Sie schaut ihm nicht einmal in die Augen, als sie das sagt. Stattdessen schaut sie sich die Karte an, die ihnen helfen wird, den schnellsten Weg nach Ayan zu finden.

„Das wird euch mehr kosten als bloß einen schwachen Willen", entgegnet Ean ihr eiskalt. Seine Aussage ist hart, aber er hat recht. Und Misa weiß es.
„Ich weiß ihr könnt mit dem Bogen umgehen", er stoppt kurz und atmet tief aus.
„Damit durfte ich auch selbst nochmal Erfahrung machen. Aber ihr werdet euch auch die Schwertkunst an einigen müssen." Auf ihrem Gesicht bildet sich kein Gefühl von Reue. Eher Freude und Zuversicht tut sich in ihr auf.

„Dann lass uns überlegen, wie wir am schnellsten nach Ayan kommen", schlägt die Prinzessin vor und beide lehnen sich zur Karte hin und überlegen, was der schnellste Weg ist. Zumindest bis das Essen kommt. Nun tut sich jedoch eine weitere Frage auf.
„Prinzessin, wie viel habt ihr geschafft mitzunehmen?" Sie überlegt kurz und zeigt Ean den kleinen Beutel mit ihrem Schmuck. Ean schaut sie ein Moment bloß mit großen Augen an und legt sein Gesicht hoffnungslos in die Hände.
„Ihr wollt mir erzählen, dass ihr euren gesamten Schmuck aus der Schatulle genommen habt?", kommt es enttäuscht von ihm. Ein Seufzer verlässt seine Lippen und er bekommt ein verwirrtes Nicken als Antwort, als er wieder zu ihr schaut.
„Sobald in die Schatulle geschaut wird, werden sie wissen, dass es keine Entführung war. Prinzessin, wisst ihr, in welche Gefahr ihr uns damit gebracht habt?"

Man kann ihm genau ansehen, wie wütend er auf Misas Naivität und sich selbst ist. Es ist nichts, was sie hätte wissen können, doch im Schloss verbergen sich mehr Intrigen als Misa es sich vorstellen kann. Sie wurde davor geschützt. Durch ihre Eltern und Rikus Überzeugung, dass er sie nach der Hochzeit sowieso loswird. Doch nun kann deren beiden Leben in Gefahr sein, sobald sie von irgendwem erkannt werden. Riku wird Misa nicht so einfach am Leben lassen. Für ihn ist sie schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Jemand, der ihm den Thron rauben kann.

Er war und ist nicht naiv genug, um zu denken, dass ihm der Thron sicher zusteht. Denn auch er weiß, dass er ein Bastard ist. Und nicht der Bastard des geborenen Königs. Sondern der Bastard des Mannes, der eine Königin geheiratet hat. Er hatte bloß Glück, dass die Königin nach ihrer ersten Geburt nicht mehr in der Lage war, weitere Kinder zu bekommen.

„Prinzessin", er seufzt erneut. „Sobald in die Schatulle geguckt wird, werden wir als Hochverräter abgestempelt. Im schlimmsten Fall werden sie euch vorwerfen, dass ihr eine Rebellion starten wolltet und ein Kopfgeld wird ausgesetzt." Erst jetzt versteht Misa, was sie getan hat. 

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