SIEBENUNDDREIßIG

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NNach einer Weile des Grübelns muss sie deprimierend feststellen, dass sie nichts tun kann. Ihre Gedanken kreisen immer wieder um die ausweglose Situation und ein tiefes Gefühl der Hoffnungslosigkeit setzt sich in ihrem Inneren fest. Sie lehnt sich erschöpft an die kalte, feuchte Wand und lässt ihren Blick über die anderen Mädchen schweifen, die mit ihr in dieser bedrückenden Zelle festsitzen. Ihre Rippen schmerzen noch immer, aber der anfängliche stechende Schmerz hat sich in ein dumpfes Pochen verwandelt.

Vor dem Gitter steht eine Wache, die finster auf sie herabblickt, weswegen sie sich vorsichtig zu einem der Mädchen hin lehnt, um leise etwas zu fragen. Sie hat schwarzes langes Haar und trägt einen schönen blauen Kimono, der jedoch an einigen Stellen bereits zerrissen ist. Sie sitzt, mit ihren Knien im Arm, zusammen gekauert an der Wand und starrt bloß in die Leere. Misa ist sie im Wagen nicht aufgefallen, weswegen sie vermutet, dass sie schön länger hier sein muss.

„Weißt du, was hier passiert?", flüstert Misa ihr leise zu, ihre Stimme bricht fast unter dem Gewicht ihrer Verzweiflung. Das Mädchen schreckt kurz zusammen und schaut emotionslos zu Misa. „Es kommen Männer, sie suchen sich jemanden aus. Was danach passiert, kannst du dir selbst ausmalen, dummes Mädchen", kommt es kalt von ihr. Sie würde gerne mehr Fragen stellen, jedoch will sie eine solche weitere Antwort vermeiden. Also lehnt sie sich wieder zurück und wartet.

Inmitten ihrer trüben Gedanken realisiert sie plötzlich, dass sie ihr Band noch um ihren Oberschenkel trägt. Fast automatisch greift sie danach. Der Dolch ist noch da, stellt sie in ihren Gedanken fest. Im selben Moment steigt die Hoffnung in ihr. Wenn sie den richtigen Zeitpunkt finden würde, an dem sie nur einen Mann überrumpeln muss, würde sie es vielleicht doch schaffen auszubrechen. Das Einzige, was ihr im Weg steht, ist ihr Aufenthaltsort. Wenn sie irgendwo im Wald ist, würde sie ein Ende als Wolfsfutter finden.

Es sind zwei Tage vergangen, bis der erste Mann kommt, so wie das eine Mädchen es versprochen hat. In diesen zwei Tagen hat weder jemand mit Misa geredet, noch hat Misa eine richtige Mahlzeit bekommen. Am ersten Tag wurde ihnen bloß ein Eimer mit Äpfeln hingestellt, der so aussah, als wäre dieser für den Pferdestall gesammelt worden. Misa bekam einen Apfel ab, brachte es aber nicht über sich, diesen zu essen. Sie erinnerte sich an den Liebesapfel, den Ean ihr gezeigt hatte, und entschloss sich, den Apfel für die Tage darauf aufzuheben. Am zweiten Tag bekam sie nichts. Genauso wie der Rest der Mädchen. Den Apfel gab sie an ein Mädchen, das schon fast ganz abgemagert war.

Es betreten zwei Männer den Raum. Einer von ihnen, der deutlich älter wirkt, trägt einen langen Kimono, der dem von Ean sehr ähnelt. Seine Haare sind grau und ein voller Bart umrahmt sein kantiges Gesicht. Der andere hat blondes Haar und trägt eine prächtige Uniform, die sofort ins Auge fällt. Misa erkennt sie als die eines hochrangigen Offiziers aus Celestia. Die Uniform ist makellos und aufwendig gestaltet. Sie besteht aus einem tiefblauen, schweren Stoff, der mit goldenen Verzierungen durchzogen ist. Eine Reihe von Orden schmückt seine Brust und die Knöpfe sind aus poliertem Messing gefertigt. Eine Uniform, die nur vertraute, ihres Vaters tragen. Der Anblick dieser lässt Misa begreifen, dass es sich um einen einflussreichen und mächtigen Mann handeln muss. Aber wieso kennt Misa ihn dann nicht? Mit so vielen Orden muss er schon Jahre im Dienst stehen.

Allmählich steigt Panik in ihr auf. Ihre Porträts hängen überall im Schloss, aber ob sie diesen noch so ähnlichsieht, weiß sie nicht. Ihre Haare sind dunkler geworden, und ihr Gesicht ist schmaler als früher. Nur ihre markante Nase und die leuchtenden Augen erinnern noch an das Mädchen, das einst als Prinzessin bekannt war. Heißt das jedoch auch, dass Vater von diesem Handel weiß? Diesen Gedanken schlägt sich Misa ganz schnell wieder aus dem Kopf. Niemals würde er so etwas zulassen. Oder?

Der Mann mit den grauen Haaren steht abseits und beobachtet, wie der andere sich umsieht.„Wenn du die Mädchen auch mal anständig füttern würdest, würde ich dir auch mehr zahlen", knurrt er den alten Mann an. Er jedoch zuckt bloß mit den Schultern.

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