Sicht Kai
Ohne auf eine Antwort zu warten verließ er das Zimmer. Scheiße. Wieso bin ich nur so dumm? Ich hätte ihm seinen Wechsel nicht vorwerfen dürfen. Oder mich einfach im Badezimmer umziehen müssen. Natürlich ist Jule sauer auf mich. Ich wäre auch nicht begeistert, wenn ich an seiner Stelle wäre. Fuck, ich bin so ein Idiot. Er wird doch nie wieder ein Wort mit mir reden. Jetzt habe ich es wohl endgültig geschafft meinen besten Freund zu verlieren. Er wollte mir helfen, für mich da sein, mich unterstützen. Und ich? Ich stoße ihn von mir weg, weil ich die Wahrheit nicht aussprechen kann. Ich bin ein Feigling. Wie kann man denn so dämlich sein? In der Angst ihn zu verlieren, habe ich ihn am Ende wirklich verloren. Jetzt ist er sauer auf mich. Er wird bestimmt Zimmer tauschen. Ich denke nicht, dass er mich noch sehen will. Einen anderen Trauzeugen wird er sich jetzt wohl auch suchen. Wieso mache ich nur immer alles falsch?
Mein Herz zerbrach in tausend Stücke. Sein besorgtes und enttäuschtes Gesicht verließ nicht meine Gedanken. Ich hatte ihn verletzt. Wie soll ich das wieder gut machen? Kann ich das überhaupt wieder gut machen? Ich bezweifle es. Vielleicht ist der Zeitpunkt jetzt gekommen, vielleicht sollte ich es einfach beenden.
Mit schweren Schritten lief ich zu meinem Koffer, holte eine Klinge und begab mich ins Badezimmer. Meinen Rücken lehnte ich an die kalten Fliesen der Dusche, während ich mich auf den Boden setzte.
Ich hielt die Klinge zwischen Daumen und Zeigefingern und dachte nach. Sollte ich es tun? Ist das der Moment, in dem es richtig wäre es zu beenden? Was hält mich davon ab? Jule hasst mich, aus offensichtlichen Gründen und ohne ihn kann ich nicht leben.
Mein Schluchzen wurde lauter. ,,FUUUUCK!" Schrie ich. Meine Stimme hallte noch einige Sekunden durch das Badezimmer. Ich schaltete das Wasser an, welches genau auf mich herunterprasselte. Wie ein warmer Sommerregen trafen mich die klitzekleinen Wassertröpfchen. Einigen sah ich zu, wie sie sich an der Duschwand einen Weg nach unten bahnten.
Würde es so enden? Das letzte was ich tue ist es, die Tropfen der Dusche zu beobachten? Kein allzu schlechtes Ende. Ein wenig beruhigten sie mich, ließen mich in meine Gedankenwelt abtauchen. Ich stellte mir vor, einer von ihnen zu sein. Nur ein kleiner Tropfen, welcher auf die Erde fällt, bis er irgendwann verdunstet. Vielleicht sind unsere Seelen genau das. Vielleicht warten sie auch nur darauf, am Ende der Reise auf die Erdoberfläche zu fallen und zu verdunsten. Würde meine Reise jetzt schon vorbei sein?
Meine Tränen wurden weniger und mein Entschluss immer klarer. Nichts hält mich mehr auf dieser Welt. Jule würde darüber hinwegkommen. Seine Verlobte wird ihm da schon zur Seite stehen. Mein Team interessierte sich eh nicht für mein Wohlbefinden, sie würden auch ohne mich zurecht kommen. Meine Familie? Sie wären traurig, enttäuscht, gekränkt, doch lange nicht so kaputt wie ich in diesem Moment.
Ich fühlte nichts mehr. Nichts außer die Leere, welche sich in meinem gesamten Körper ausbreitet. Ich will wieder fühlen. Nur noch ein einziges mal. Also setzte ich zum ersten Schnitt an. Zuerst wieder auf meinem Bein. Ich würde die letzten Momente noch völlig auskosten. Das Blut floss und tropfte von meinem Oberschenkel auf den Boden, wo es sich mit dem Wasser vermischte. Ein hellroter Schimmer breitete sich nun dort aus. Dieser wurde dunkler, als ich zum nächsten Schnitt ansetzte. Ich setzte immer wieder neu an, bis mein kompletter linker Oberschenkel mit Schnitten verziert war. Sie waren nicht tief, aber sichtbar. Sie würden abheilen und keine großen Narben hinterlassen. Sie würden verblassen, so wie meine Gefühle.
Nie hätte ich geglaubt, dass Gefühle mehr Macht über einen Menschen haben können, als physische Verletzungen. Gefühle lassen dich an deine Grenzen gehen, vor allem wenn sie von einem anderen Menschen bestimmt werden. Julian hatte volle Kontrolle über meine Gefühle. Er konnte mich glücklich machen, er konnte mich aber genau so verzweifeln lassen. So verzweifelt, dass ich in einem Hotel in einer Dusche sitze, meine Haut zerschneide und darüber nachdenke mein Leben zu beenden. Er ist es, der gerade die Kontrolle über mich hat. Der damalige Kai hätte nie so gehandelt. Niemals.
Es ist nicht Julians Schuld, das will ich gar nicht sagen. Aber er ist der Grund, weshalb ich so handle. Einfach alles wurde mir gerade zu viel. Die Verlobung. Unser Streit. Die Tatsache, dass er nie so für mich fühlen wird, wie ich für ihn.
,,Ich liebe dich Julian" sprach ich, bevor der erste Schnitt auf meinem Arm platziert wurde. Kurz schrie ich auf. Es brannte schrecklich. Fühlte ich also doch noch etwas? Schmerz? Bitte lass es mich nochmal spüren, schrie mein Körper, weshalb ich zum nächsten Schnitt ansetzte. Wieder schrie ich vor Schmerz. Es tat gut. Jeder würde mich jetzt für verrückt erklären, doch ich fühlte mich in diesem Moment lebendiger, als im gesamten letzten Monat. Der nächste Schnitt ließ mich nicht schreien, doch er fühlte sich gleich an, wie die anderen zuvor.
,,Was machst du nur mit mir?" Redete ich vor mich hin und dachte ständig an meinen besten Freund. Wann hatte ich mich in ihn verliebt? Als er nach Dortmund gewechselt ist? Als wir zusammengezogen sind? Als er mich seiner Familie vorgestellt hat? Unser erster gemeinsamer Urlaub? Nein. Es begann schon viel früher. 2016 als ich das erste mal im Training zu den Profis gestoßen bin. Da sah ich ihn zum ersten Mal. Den blonden Jungen, welcher nur ein paar Jahre älter war als ich. Schon damals hatte er dieses unwiderstehliche Lächeln im Gesicht. Wir hatten Anfangs kaum miteinander zutun, dennoch fiel er mir sofort auf. Wie er den Ball in die linke obere Ecke des Tores beförderte und dann auf Mitch zulief, um mit ihm abzuklatschen. Für einen kurzen Moment flog sein Blick zu mir und seine Augen trafen meine. Das war er. Das war der Moment, in dem ich mich in Julian Brandt verliebte, auch wenn es mir erst viel später bewusst wurde. Mit diesem Gedanken verpasste ich mir den nächsten Schnitt und merkte, wie mir langsam ein wenig schwindelig wurde. Kurz wurde mir schwarz vor Augen, doch ich war noch vollstens bei Bewusstsein. Bei Bewusstsein, doch in Gedanken an einem anderen Ort, als der Realität.
Aiaiai, Kai scheint es wieder schlechter zu gehen. Würde er sich jetzt wirklich umbringen? Das erfahrt ihr in einer Stunde im nächsten Kapitel. Seid gespannt und schreibt gern eure Vermutungen und Meinungen in die Kommentare :)
-M <3
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We can go through it, together!
FanficWie abhängig man von einem Menschen sein kann merkt man meist erst, wenn es zu spät ist. Und dann tut der Gedanke an diese Person mehr weh, als jede Klinge, jedes Hungergefühl, jeder Messerstich. Liebe lässt uns Dinge tun, von denen wir niemals dach...