Sicht Julian
Eine halbe Stunde etwa saß ich nun vor meiner Zimmertür. Immer mehr bereute ich es, ihn allein gelassen zu haben. Was ist, wenn er sich etwas antut? Die Schuldgefühle in mir stiegen. Was bin ich nur für ein verdammter Vollidiot? Plötzlich hörte ich einen leisen Schrei. Es war Kai, diese Stimme erkenne ich unter tausenden. Fuck, ich hätte ihn nie allein lassen dürfen. Sofort sprang ich auf und suchte die Schlüsselkarte in meiner Hosentasche, welche ich zum Glück schnell fand. Als die Tür sich öffnete sprang ich sofort in den Raum, doch ich konnte ihn nicht sehen. Noch ein Schrei. Er kam aus dem Badezimmer. Schnell rannte ich zur Tür, welche mich von Kai trennte und riss sie auf. Was ich da sah, war schrecklicher als meine schlimmsten Alpträume.
Kai saß auf dem Boden unter der Dusche, mit einer Klinge in der Hand und verteilte Schnitte auf seinem Arm. Mir wurde kotzübel, als ich das Blut sah. Er schien so in Gedanken zu sein, dass er mich nicht einmal bemerkte. Der nächste Schnitt wurde getätigt und ich spürte die Tränen, welche sich erneut in meinen Augen anbahnten. Ohne weiter zu zögern überwindete ich die letzten Meter zwischen uns und schlug die Klinge aus seiner Hand. Er sah mich nicht an. Er blickte nur weiter auf seine Hände. Ich suchte schnell Verbandszeug, welches ich dank Marie in meinem Koffer hatte. Sie hatte mich gezwungen es mitzunehmen, für den Notfall, wofür ich ihr in diesem Moment mehr als dankbar war, denn das war ganz sicher ein Notfall,
Mit dem Erste-Hilfe Set in der Hand lief ich zurück zu Kai, neben den ich mich sofort kniete. Mir war es egal, dass ich gleich klitschnass sein würde. Mein bester Freund braucht Hilfe und das ist gerade Priorität Nummer eins. Ich zog seinen Arm ein Stückchen weiter zu mir. Das Blut wurde schon von der Dusche abgespült, weshalb ich den Arm nur noch desinfizierte und verband. Kai rührte sich kein Stück und starrte gedankenverloren in der Gegend umher. Nach seinem Arm verband ich auch seinen Oberschenkel, bevor ich ihn hochhob, die Dusche ausstellte und mit ihm ins Schlafzimmer lief. Dort legte ich ihn sanft ab und setzte mich an die Bettkante. Seine Hand hielt ich in meiner und strich darüber. Langsam schien er wieder in der Realität anzukommen.
,,Was machst du nur für scheiße?" Fragte ich weinend und strich durch seine Haare.
,,Es tut mir leid." Gab er leise von sich.
,,Nein mir tut es leid. Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen." Schluchzte ich noch immer.
,,Fast hätte es funktioniert. Fast wäre es vorbei gewesen." Sprach er weiter, völlig kalt und gefühllos. Mein Herz brach in Millionen Stücke.
,,W-was?" Stotterte ich.
,,Ich hätte es fast geschafft, dann wäre ich dir jetzt nicht noch eine größere Last. Ich verstehe, wenn du dich jetzt von mir abwendest." Redete er weiter. Seine Worte schmerzten. Sie bohrten sich in mein Herz, wie tausend kleine Nadeln.
,,Sag sowas nicht. Du bist keine Last für mich. Ich werde mich niemals von dir abwenden Kai, hörst du? Du bist mein bester Freund. Ich lass dich nicht einfach allein. Und schon gar nicht lasse ich zu, dass du dich umbringst." Versprach ich ihm. Er redete nicht weiter, sondern starrte nur an die Decke. Das ganze wurde langsam auch mir zu viel. Ich habe ihn noch nie so gesehen. Ich wollte ihn auch nie so sehen. Ich will meinen fröhlichen Kai wieder zurück. Ich weiß er ist noch vorhanden, doch ich muss ihm helfen, wieder rauszukommen.
Sanft hob ich seine Decke hoch und legte mich neben ihn. Seinen Kopf platzierte ich auf meiner Brust und kraulte ihn beruhigend. Nach einiger Zeit vernahm ich ein leises schnarchen. Er muss wohl eingeschlafen sein.
,,Ich pass auf dich auf. Wir schaffen das. Du wirst wieder der Alte, das verspreche ich. Egal was ich dafür tun muss." Flüsterte ich, bevor mich die Erschöpfung auch packte und ich in einen tiefen Schlaf fiel.
Durch Kai, welcher sich aus meinen Armen lösen wollte, wachte ich wieder auf.
,,Hey" flüsterte ich.
,,Hi" gab er beschämt zurück.
,,Geht es dir besser?" Fragte ich sanft. Er saß mittlerweile aufrecht im Bett und blickte auf seine Hände, welche er knetete. Zur Antwort nickte er.
,,Und du willst wirklich nicht darüber reden?" Versuchte ich mein Glück erneut. Er atmete schwer und ich sah ihm an, dass er kurz davor war, endlich mit der Wahrheit rauszurücken. Also setzte auch ich mich auf und nahm seine eine Hand in meine. Daraufhin kniff er seine Augen zusammen und sah in die andere Richtung. Wieso konnte er mich nicht ansehen? Was habe ich falsch gemacht?
,,Ich kann nicht Jule. Es geht einfach nicht, egal wie sehr ich es will. Es würde alles ruinieren." Seine Stimme zitterte. Was würde ruiniert werden? Wieso kann er es nicht sagen?,,Was würde es ruinieren? Komm schon Havy, du hast doch sicherlich niemanden getötet. So schlimm kann es nicht sein." Ermutigte ich ihn. Er öffnete den Mund, doch schloss ihn schnell wieder und schüttelte den Kopf.
,,Ist okay. Rede darüber, wenn du soweit bist." Beruhigte ich ihn. Daraufhin sah er mich an und sprach.
,,Du erzählst es doch keinem, oder? Bitte Jule, du musst das für dich behalten." Er bettelte mich förmlich an.
,,Versprochen. Unter drei Bedingungen." Forderte ich. Aufmerksam hörte er mir zu.
,,Erstens, du hungerst nicht mehr. Du wirst langsam wieder anfangen normal zu essen. Ich helfe dir auch dabei. Zweitens, du verletzt dich nicht mehr selbst und startest keinen weiteren Suizidversuch. Und drittens, du schreibst mir oder rufst mich an, sobald es dir schlecht geht oder du solche Gedanken hast. Ich werde mein Handy immer auf laut stellen, um es zu hören. Ich bin für dich da. Wir schaffen das, okay? Du musst mir nicht erzählen, was vorgefallen ist, aber ich möchte ab sofort wissen, wann es dir wieder so schlecht geht. Stimmst du zu? Nur unter diesen Bedingungen werd ich meine Klappe halten. Das ist deine letzte Chance, sonst rede ich mit Hansi oder Timo oder deinen Eltern oder einem Psychologen. Deal?" Listete ich meine Forderungen auf. Kurz überlegte er, doch stimmte schließlich zu.
,,Okay, Deal."
Na mal sehen, ob beide den Deal einhalten werden... Wenigstens ist Jule dazwischen gekommen, bevor noch etwas schlimmeres passiert wäre. Mal sehen, wie es so weiter geht🤔
-M <3
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We can go through it, together!
FanfictionWie abhängig man von einem Menschen sein kann merkt man meist erst, wenn es zu spät ist. Und dann tut der Gedanke an diese Person mehr weh, als jede Klinge, jedes Hungergefühl, jeder Messerstich. Liebe lässt uns Dinge tun, von denen wir niemals dach...