36. Der feuerspeiende Berg

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Erst als ich es mir im Trainingsraum bequem gemacht hatte, überwand ich mich dazu, den Umschlag zu öffnen. Hatte ich doch schon ohnehin keine Lust gehabt, war diese im Laufe des Gesprächs bis in den Minusbereich gesunken. Wieso tat ich das noch für die Organisation? Wieso ließ ich mich so sehr benutzen? Ich verstand es selbst nicht. Doch irgendwie war das mein Leben. Und ich konnte es mir nicht mehr ohne Training vorstellen.

Missionsbefehl
Ausführer: Lily Evans
Zeit: 24.8.79
Ort: Pompeji, Kaserne
Aufgabe: Verstecken, bis der Ausbruch des Vesuvs beginnt. In die Kaserne einbrechen, Metallquader (ca. 30cm hoch, 20cm breit, 35cm lang) aus dem tiefsten Raum konfiszieren
Wichtig: nicht beschädigen, Metall selten/ säureresistent, aus Raum kann nicht teleportiert werden/ Portale erstellt werden

Ich seufzte. Dabei hatte ich gedacht, ich hätte schon alles gesehen. Tja, ein Vulkanausbruch war tatsächlich noch nicht darunter gewesen. Und das für einen Metallklotz, den sicher sowieso niemand brauchte. Er würde, wie die anderen Artefakte, im Hauptquartier gelagert und niemals wieder benötigt werden.

Aber Befehl war Befehl. Also musste ich meine Lateinkenntnisse mal wieder auspacken. Den Ablauf des Ausbruches hatten wir tatsächlich bereits im Unterricht durchgenommen, sodass ich nicht einmal mehr in der Bibliothek nachschauen musste. Es reichte, dass ich mein Buch aufschlug, die Lateinvokabeln durchlas und die Zeittafel anschaute.

Irgendein Plenius hatte nämlich damals genau dokumentiert, was geschehen war.

Nachdem ich den groben Ablauf drinnen hatte, musste ich ins Kleiderzimmer der Organisation, um mir von dort eine schlichte Tunika zu holen.

Zum Glück musste ich mich nicht als jemand anderes ausgeben oder wieder als Sklavin arbeiten. Meine erste Mission war wirklich nicht schön gewesen. Hier würde ich bei dem Chaos sicherlich nicht einmal auffallen.

Mit diesem Gedanken erschuf ich ein Zeitportal an den Stadtrand von Pompeji im Jahr 79.

Dort, wo ich landete, war nicht viel los. Nur eine ältere Frau starrte mich mit offenem Mund an, doch ich machte mir nicht die Mühe, ihr Gedächtnis zu verändern. Sie würde sowieso nicht lange genug leben, um jemandem davon zu erzählen.

Als ich zwischen den Häusern hindurchlief, bot sich mir ein hervorragender Blick auf den dunkel und unheilverkündend aufragenden Vulkan nahe der Stadt.

Auf den Straßen herrschte geschäftiges Treiben. Die Menschen schienen an den Vesuv gewöhnt zu sein und absolut nicht damit zu rechnen, dass dieser ihr Leben innerhalb von 24 Stunden völlig auslöschen konnte.

Nur demjenigen, der genau hinhörte, fiel die Abwesenheit von Vogelgezwitscher auf. Und auch diejenigen schenkten dem kaum Beachtung.

Zu sehr waren sie mit ihrem Tagesablauf beschäftigt. Einer bot mit lauter Stimme seine neuen, selbst gewebten Teppiche preis, während zwei Kinder auf der Straße fangen spielten. Eines von ihnen rempelte mich dabei an, beachtete das aber gar nicht.

Dafür schrie eine Frau: "Benehmt euch gefälligst! Wir sind hier in der Öffentlichkeit".

Die Kinder rannten einfach weiter, während die Frau auf mich zutrat: "Verzeihen Sie bitte das Verhalten der Beiden. Sie sind wirklich nicht gut erzogen".

"Kein Problem", lächelte ich. "Es ist schön, dass sie Spaß haben".

Es erschreckte mich selbst, wie leicht ich das mittlerweile herausbekam. Dass ich nicht losheulte, weil ich wusste, dass die Kinder nicht mehr allzu lang leben würden. Früher hätte ich das nicht geschafft. Aber ich schätze, Erfahrung härtet ab. Jedenfalls, wenn es sich um mir nicht bekannte Menschen handelte...

Mein Leben als ZeitreisendeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt