Dicklich

30 1 2
                                    

Phil und Abigail hatten sich unter der flauschigen Decke aneinander gekuschelt. Eine Packung Chips knisterte in Phils Hand, als er mit der anderen nach der Fernbedienung griff. Mit dem unverkennbaren Sound erschien ein großes, rotes N auf dem Bildschirm und kurz darauf zappte Phil bereits durch das Angebot von Netflix. Er öffnete die Tüte, als die Titelmelodie ihrer Lieblingsserie ertönte, und schnappte sich eine Handvoll Chips. Angelockt vom würzigen Duft tat Abigail es ihm gleich, sodass sie eine Weile lang im Gleichklang kauten ... bis Phil damit aufhörte und die Chipstüte langsam, aber sicher aus Abigails Greifweite brachte.

„Hey, was soll das?", begehrte sie scherzend auf und streckte die Hand nach Nachschub aus.

„Sie sind hochkalorisch", gab Phil zu bedenken.

„Ich treibe doch bereits Sport", wandte sie ein und rollte mit dem Oberkörper über seinen Brustkorb, um an die Chips ranzukommen. Doch Phil vergrößerte die Distanz zwischen dem Snack und seiner Freundin.

„Wolltest du nicht zwei Mal die Woche zum Sport?"

Abigail hatte eben noch gemütlich auf ihm gelegen, da setzte sie sich aufrecht und rieb sich den Hinterkopf. „Ja, schon. Aber es war in der Arbeit in letzter Zeit so stressig", gab sie widerwillig zu.

Mahnend hob er den Zeigefinger und lächelte. „Vorsicht, Abigail. Du weißt, dass Dreißigjährige nicht den Stoffwechsel Zwanzigjähriger haben."

Abigail versetzte ihm einen leichten Hieb in den flachen Bauch. „Ich werde noch keine Dreißig."

„Doch. In zwei Jahren."

„Nächste Woche kriege ich es bestimmt hin, öfter ins Fitnessstudio zu gehen. Kann ich jetzt?" Fordernd streckte sie den Arm aus.

Phil zögerte einen Moment lang, doch dann reichte er ihr die Chipstüte.

Schon nach zwei weiteren Portionen war Abigail der Appetit vergangen. Ihr war, als wanderten die Kalorien direkt auf ihre Hüften und Rippen, sodass sie auf einmal das Gefühl hatte, sich zunehmend in ein Michelin-Männchen zu verwandeln.

So ein Blödsinn! ging ihr durch den Kopf. So sehr hatte sie in den letzten drei Jahren nun auch wieder nicht zugenommen. Außerdem waren es sicher Wassereinlagerungen und Frustfutter, den sie sich in stressigen Phasen gegönnt hatte.

Aber der Zweifel nagte an ihr. Tatsächlich passten ihr die Jeans nicht mehr, die sie gleich doppelt vor wenigen Jahren gekauft hatte. Auch hatte sie seit einem Jahr kein eng anliegendes Oberteil angezogen, weil sie nicht auf das Speckröllchen angesprochen werden wollte, das an ihrem Bauch gewachsen war. Was soll's? Auch an Phil hatte der Zahn der Zeit genagt. Zwar war er trotz Anfang Dreißig so schlank wie immer, stellenweise schien allerdings die Kopfhaut durch das hellbraune Haar durch und die Krähenfüße gruben sich immer tiefer in die Haut um die Augen herum. Darüber hinaus sprossen Haare aus seiner Nase wie Unkraut auf einem Feld. Dennoch hielten seine körperlichen Veränderungen sie nicht davon ab, ihn gern zu küssen und zu umarmen.

Auch spätabends gaben Phils Bemerkungen Abby keine Ruhe. Nach dem Zähneputzen schlenderte sie zum Kleiderschrank, um die Anziehsachen für den morgigen Tag auszusuchen. Wie um sich selbst zu beweisen, dass die wenigen Kilogramm „Bonusgewicht", wie Abby es nannte, kaum etwas an ihrer äußeren Erscheinung geändert hatten, langte sie nach dem himmelblauen Top, den sie das letzte Mal vor fast fünf Jahren getragen hatte. Der dehnbare Stoff ließ sich problemlos über den Oberkörper streifen. Allerdings musste sie stärker ziehen, um den Bauch zu bedecken.

Sie hörte, wie Phil gurgelte, als sie sich vor den Spiegel stellte und sich von allen Seiten betrachtete. Sie liebte dieses Oberteil und hatte es regelmäßig ohne Rücksicht auf die Jahreszeit getragen. Doch ihre Wiedersehensfreude bekam einen Dämpfer. Hatte sie noch vor einer ganzen Weile richtig gut darin ausgesehen, erinnerte sie ihr Anblick an rohen Teig, der in Polyester gestopft worden war. Sie zuckte zusammen. Der Stoff um die Oberarme spannte. Das Speckröllchen war dabei, sich in einen Rettungsring zu transformieren. Als wäre es nicht schlimm genug, kletterte das Top ihren Bauch hinauf, wenn sie sich zur Seite drehte oder bückte. Abby musste es runterziehen, um nicht den Bauchnabel zu entblößen.

Phil verließ das Badezimmer und legte den Zeigefinger auf sein Kinn, als er sie von Kopf bis Fuß musterte. „Vielleicht wäre es besser, wenn du ein anderes Shirt anziehst."

Dann ging er in die Küche, ohne ihr einen Kuss gegeben oder sie umarmt zu haben.

In der Arbeit wechselten sich Ebbe und Flut ab. Mal strömten Schülermassen ins Sekretariat, um nach Bescheinigungen, Pflastern oder Kühlpacks zu fragen oder sich vom Unterricht befreien zu lassen. Mal herrschte gähnende Leere im kleinen Büro, das Abby mit Mrs. Lanchester teilte. In solchen Phasen des Tages pflegte die ältere Kollegin, sich mit einer Tasse heißen Tees ins Lehrerzimmer zu verziehen, um mit jemandem zu plaudern, der es verpasst hatte, rechtzeitig das Weite zu suchen.

In der Mittagspause holte Abby ihr belegtes Brot heraus und wickelte es aus der Frischhaltefolie. Frischkäse zwischen Tomaten-, Gurkenscheiben und Salatblättern, gestopft zwischen zwei Scheiben kalorienhaltigem Weißbrot. Das schlechte Gewissen überkam sie. War sie Phil zu dick? Hatte er deshalb aufgehört, regelmäßig mit ihr zu schlafen? Wann war das letzte Mal gewesen? überlegte sie. Vor drei Wochen?

„Na ja", murmelte Abby in ihre Tupperdose, „Wir sind immerhin schon drei Jahre zusammen. Da fällt man nicht jede Woche übereinander her, oder?"

Die geschälte Karotte und die Pflaume schwiegen, als wollten sie sie vor der grausamen Wahrheit bewahren, dass es eben doch anders ging. Dass es durchaus Paare gab, die nicht nur ein Mal wöchentlich miteinander intim wurden, obwohl sie bereits seit Jahren zusammen waren.

Mit einem halb gegessenen, belegten Brot, aber ohne Karotte und Pflaume machte sich Abby Stunden später auf den Heimweg.


Rise of Theseus (Continuum-Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt