„Wie ist's gestern gelaufen?", fragte Alec. Mehr brauchte er nicht zu sagen, denn beide wussten sofort, wovon er sprach.
„Ziemlich gut", antwortete Julian knapp. Was er damit ausdrücken wollte, war, dass sich genügend Menschen zusammengefunden hatten, um auf dem Gelände eines Konzerns zu protestieren.
Nachdem durch die Zeitungen bekannt geworden war, dass dieser Konzern seinen Mitarbeitern trotz unzähliger Überstunden und einem niedrigen Stundensatz unregelmäßig Lohn auszahlte und sie unter fadenscheinigen Gründen entließ, um die Übriggebliebenen doppelt so hart schuften zu lassen, hatte Julian per Rundmail eine Demonstration organisiert. Mit Schildern hatten sie gegen die Ungerechtigkeit protestiert und Julian hatte die Chance genutzt, erneut auf die Gefahren hinzuweisen, die von Unternehmen ausgingen, die mächtig geworden waren.
Ethan und ein paar andere ließen ihm gegenüber die Bemerkung fallen, dass eine gewisse Aggressivität und Radikalität in seiner Stimme mitgeschwungen hatte. Julian wertete es als Erfolg. Hatten ihm doch die Mitglieder von Liber8 zu verstehen gegeben, dass er nur etwas bewirken konnte, wenn er mit Überzeugung und Härte auftrat. Wer nett und lieb war, führte nicht an, sondern lief mit. Nur wer Durchsetzungskraft zeigte und sich klar positionierte, konnte seinen Stand zementieren und die anderen leiten.
Am späten Abend, als sich mehr als die Hälfte nach Hause begab, kam ein Mann auf Julian zu und meinte, er, Julian, sollte ernsthaft darüber nachdenken, in die Politik zu gehen. Und tatsächlich fiel dieser Vorschlag auf fruchtbaren Boden. Warum nicht? dachte Julian. Vielleicht eines Tages. Doch gegenwärtig konzentrierte er sich auf Piron.
„Kannst du dich um den Code kümmern?" Alec überließ ihm seinen Haupt-Bildschirm, während er sich an einen anderen setzte.
Julians Finger flogen über die Tastatur, um hier und da etwas anzupassen. Einen Augenblick hielt er inne und fand die Situation nach wie vor surreal. Er und Alec, nicht mehr bei den Eltern wohnend, aber gemeinsam arbeitend? Einst hätte er jeden für verrückt erklärt, der ihm solch eine Zukunftsvision aufgedrängt hätte ... Oder dass Alec aus einer anderen Zeitlinie auftauchen und sein anderes Ich verschwinden lassen würde. Oder dass Julian einst zu Theseus aufsteigen würde. – Alles davon war ganz schön irre und verursachte nur Kopfschmerzen.
Julian fuhr mit der Programmierung fort. Die Sache war nun mal, wie sie war. Dass diese Version von Alec in die Gegenwart geplatzt war, war ein Segen und kein Fluch. Aus einem aufgeschlossenen, freundlichen Jungen, der Alec einst gewesen war, war im Laufe der Jahre eine finstere, karriereorientierte Maschine geworden. Hatten Julian und er einst ab und an gemeinsam Konsolenspiele gespielt, hatte sich Alec im Laufe der Zeit verändert und in jemanden verwandelt, mit dem man nicht gern befreundet war.
Julian hatte es gehasst, wenn seine Stiefmutter Alec aufforderte, Julian ins Kino oder in die Bowlinghalle mitzunehmen. Wie einen geistig zurückgebliebenen Halbbruder, mit dem kein Gleichaltriger zu tun haben wollte. Zugegeben, an sozialen Kontakten hatte es Julian im Gegensatz zu Alec gemangelt. Trotzdem hatte er sich einen Freundesstamm aufgebaut, während Alec den seinen zugunsten der Arbeit und aufgrund seiner Ansichten reduziert hatte. Nur ein Mal hatte sich Julian einer falschen Gruppe angeschlossen. Ein einziges Mal mit fatalen Folgen: dem Tod seines Vaters.
Alecs Telefon klingelte. Alec ging ran, verstellte ein wenig seine Stimme, um seinem Vorgänger zu ähneln und keinen Verdacht zu erwecken, und legte auf. „Ich bin nachher mit George aus der Finanzabteilung zum Abendessen verabredet."
„Networking?"
„Genau. Willst du mit?"
Er schüttelte den Kopf. „Habe schon was vor. Außerdem bist du der Gesprächige von uns beiden."
Alec lächelte.
Genau deshalb wurde Alec die Aufgabe zuteil, sich mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu vernetzen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Während Julian außerhalb dieser Mauern Gleichgesinnte suchte, um seine Ziele zu erreichen, sollte der „neue" Alec ein Band zu den wichtigen Köpfen des Unternehmens knüpfen.
„Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht zu freundlich rüberkomme", murmelte Alec vor sich hin.
Sein Stiefbruder nickte. Dem alten Alec würde es nicht ähnlichsehen, Kontakte zu anderen zu pflegen, die nicht Kellog hießen. Aber Alec hatte sein Interesse an den Mitarbeitern Kellog gegenüber als einen Versuch verkauft, diese effektiver steuern zu können, je mehr er von ihnen wusste. Gelogen war es nicht. Allerdings verschwieg Alec Kellog, dass er nicht vorhatte, diese Menschen eines Tages zu erpressen, sondern sie auf seine Seite zu ziehen.
Geräuschlos glitt die Tür auf und Matthew Kellog betrat den Raum, das gelockte, dunkle Haar perfekt frisiert in einem glatt gebügelten dunklen Anzug und einer quergestreiften Krawatte.
„Wie ich sehe, seid ihr fleißig zugange", bemerkte er mit einem ungezwungenen Lächeln im Gesicht.
Ohne aufzusehen, verengte Julian die Lider und tippte weiterhin Codes ein. Der Typ war ihm unheimlich. Er trat charmant auf und erweckte fast den Eindruck, niemandem wehtun zu können. Aber hinter der sorgfältig aufgebauten Fassade lauerte bodenlose Finsternis, in die man stürzte, wenn man keine Distanz zu ihm wahrte.
„Bin für heute fertig", entschied Julian und erhob sich.
„Gut, gut", sagte Kellog. „Ich wollte deinen Bruder ohnehin allein sprechen."
Ohne sich zu verabschieden, verließ Julian das Büro. Er wollte an Kellog keine Höflichkeiten verschwenden, weil er wusste, dass sie nichts nutzten. Es war nur eine Frage der Zeit, ehe Kellog ihn aus der Firma warf. Denn Julians Aktivitäten würden einem misstrauischen, wohlhabenden Mann wie ihm nicht lange verborgen bleiben.
Julian begab sich direkt in die „Zentrale". So hatten sie den Kellerraum getauft, den Chuck ihnen zur Verfügung stellte. Chuck war nach Kanada ausgewandert, weil er sich nicht mehr mit der amerikanischen Kultur identifizieren konnte. Julian konnte manchmal noch immer nicht fassen, dass sich seiner Bewegung Männer und Frauen anschlossen, die mindestens doppelt so alt waren wie er. So wie Chuck, der Julian mit den geeigneten Räumlichkeiten ausstattete, damit er seine Theorien ausarbeiten und seine Anhängerschaft an künftigen Plänen arbeiten konnten.
„Was ist denn hier passiert?" Auf der untersten Stufe zum Keller blieb er stehen und überblickte die Lage.
Aus einer modernen Stereoanlage dröhnte Rockmusik. Ethan, Bill, Zoe und Kendra fläzten sich auf den Sofas und Sesseln und aßen Pizza. Der Duft nach frisch gebackenem Teig und geschmolzenem Käse stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn daran, wie hungrig er tatsächlich war. Halb leere Pizzakartons tummelten sich auf dem Tisch. Energy-Drinks leisteten ihnen Gesellschaft.
„Eine anonyme Spende." Zoe hatte sich erhoben und tänzelte um die eigene Achse. „Eine ziemlich fette."
Julians Brauen zogen sich zusammen. „Von wem?"
„Keine Ahnung", meldete sich Ethan zu Wort. „Da kam ein dicker Briefumschlag für dich an diese Adresse. Auch ein Stück?"
Zögernd kam Julian ihm entgegen und nahm das Stück an. Salami, Oliven und viel Käse. – Exakt so, wie er es mochte.
„Warum guckst du so grimmig?" Zoe lachte auf und warf das dunkle Haar zurück. „Freu dich, dass es jemand gut mit dir meint."
„Bist du dir dessen sicher?", fragte er misstrauisch und biss in die Pizza. Wer auch immer ihn und seine Freunde unterstützte, der führte vermutlich nichts Gutes im Schilde. Doch solange er nicht mit Forderungen kam, die Julian ohnehin nicht gedachte zu erfüllen, nahm er die Spende an. Außerdem schmeckte die Pizza einfach himmlisch, auch wenn sie bereits erkaltet war.
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Rise of Theseus (Continuum-Fanfiction)
FanfictionUm ein Anführer zu werden, muss der 21-jährige Julian Randol selbstbewusster und aggressiver werden. Zum "Üben" sucht er sich Abby aus. Er wollte die 28-Jährige schon immer mal nackt sehen ..., sich aber auf keinen Fall verlieben.