Nur eine Schachfigur

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Die Lust brachte ihn beinahe um den Verstand. Er war geladen und suchte nach einem Ventil. Abbys nackter Körper erschien vor seinem inneren Auge, egal, wohin er blickte. Vehement klopfte er an Kendras Tür. Er wusste, dass sie auf ihn stand, auf den jungen Mann mit Potential, der noch Großes erreichen würde. Auch sie hatte davon gehört, dass er in der Zukunft eine bedeutende Rolle spielen würde, und war in diese Vorstellung wohl vernarrter, als in ihn selbst. Aber das war Julian egal, solange sie ein Bedürfnis befriedigte, das nicht aufgeschoben werden konnte.

„Bist du allein?", fragte Julian, kaum hatte sie ihm geöffnet.

Ihre Augen wurden groß. „Ja. Die anderen essen Burger und Pommes in der Imbissbude nebenan."

Er drängte sie hinein, als wären Gangster hinter ihm her, und verriegelte die Tür.

„Aber was ...?" Zu mehr war Kendra nicht fähig, denn er verschloss ihre Lippen mit den seinen.

Julian wusste nicht, wie ihm geschah. Noch nie hatte ihn solche animalische Lust gepackt und in eine Marionette verwandelt. Ihm war, als ob ihn eine andere Macht steuerte. Stürmisch und fordernd küsste er Kendra, während er ungeduldig an ihrem Gürtel zerrte, um sie aus der Hose zu schälen. Sie erwiderte seine Küsse mit derselben Leidenschaft und half ihm aus seinen Sachen. Seine Lider blieben die meiste Zeit über geschlossen. Er versuchte die Erinnerungen an diesen sinnlichen, wohlgerundeten Körper zu bewahren.

Als Kendra ein Kondom über seinen erigierten Penis streifte, ließ sich Julian stöhnend vor Erwartung zurückfallen und stellte sich vor, wie es wäre, Abbys Körper zu genießen und in ihr zu kommen.

Anzüglich grinsend zog ihn Kendra aufs Bett und ließ ihn ohne großes Vorspiel zwischen ihre Schenkel. Während sich Julian rhythmisch bewegte und Kendras Gesicht weiterhin mit Küssen bedeckte, war er gedanklich bei ihr, der Frau, die nackt vor ihm gestanden hatte und die er trotzdem nicht haben konnte.

Die Vorstellung, Abbys Brüste zu kneten und ihre Feuchte und Wärme zu spüren, trieb ihn so in den Wahnsinn, dass sich Julian innerhalb weniger Minuten in Kendra ergoss. Es fühlte sich an wie eine Befreiung.

Schweißgebadet rollte er von Kendra herunter und ließ sich keuchend neben ihr fallen. Seine Muskeln erschlafften. Julian schob die Strähnen aus dem Gesicht und gab sich dem befriedigenden Moment hin, der auf den Orgasmus folgte. Keine Ängste, keine Sorgen, keine Bedenken drängten sich in seinen Kopf.

Doch dieses Gefühl hielt nicht länger an. Nackt wie sie war, schmiegte sich Kendra an ihn.

„Das war schön. Ich habe es genossen", hauchte sie. Julian wusste, dass sie log. Er hatte sich an ihr abreagiert und sich nicht einmal bemüht, sich zu revanchieren.

Da war er wieder, kroch aus den Untiefen seiner Seele und durchbrach die Meeresdecke: der Selbsthass. Der Hass, den die Tatsache nährte, dass er schwach geworden war, dass er über Kendra hergefallen und sie benutzt hatte, dass er an Abigail seine Überzeugungskünste testen wollte und die Contenance verloren hatte. Ein Glück, dass er nicht über Abigail hergefallen war. Aber er war nah dran gewesen.

Er hasste sich für seine Schwäche, für seine Emotionen, für seinen Trieb, der Oberhand gewonnen hatte. Und er hasste sich für all die kleinen und großen Dinge, die seinetwegen schiefgelaufen waren. Aber am meisten hasste er sich dafür, weil seinetwegen eine Reihe unglücklicher Verkettungen dazu geführt hatte, dass sein Vater erschossen worden war.

Julian hatte das Gefühl zu ersticken. Er fühlte sich wie in einem Schraubstock, dessen Backen aufeinander zusteuerten und ihn zu zerquetschen drohten. Vielleicht wäre es besser, wenn man ihn zerdrückte. Doch nein, er hatte seinem toten Vater etwas versprochen. Er hatte ein Ziel vor Augen, und dieses Ziel war es wert, weiterhin am Leben zu bleiben.

Entschieden erhob er sich, murmelte „Es tut mir leid" und trottete ins Bad.

„Was?", hörte er Kendra überrascht fragen, antwortete ihr jedoch nicht.

Heißes Wasser schoss aus dem Duschkopf. Innerhalb kurzer Zeit hatte der Dampf den Spiegel und die Glaswände der Kabine beschlagen, sodass alles um ihn herum nur noch verschwommen war. Julian wusch sich gründlich mit Inbrunst, als müsste er sich von Malerfarbe befreien. Rieb die Haut so hart, dass sie rot glühte.

Julian verstand nicht, warum er sich auf diese Weise bestrafte. Immerhin hatte er Abigail nicht wehgetan, zumindest nicht körperlich. Er hatte lediglich etwas gefordert und sie hatte sich dem gefügt. Niemand war dabei zu Schaden gekommen. Wer ein Anführer werden wollte, musste nun mal lernen, von Menschen zu fordern, dass sie aus ihrer Komfortzone herauskamen und weniger angenehme Dinge taten. Dennoch fühlte es sich falsch an.

Mit dem Handtuch rieb er sich Gesicht und Körper, wie um sich von dem reinzuwaschen, was er einer Frau angetan hatte.

„Daran war nichts Schlimmes", sagte Julian zu seinem Spiegelbild, das ihn anklagend angesehen hatte. „Sie hat sich ausgezogen. Mehr nicht."

Abigail müsste noch einmal für sein Experiment herhalten, beschloss Julian. Sie war perfekt dafür. Das Schicksal oder der Zufall hatte sie zu ihm gebracht, um ihm dazu zu verhelfen, Theseus zu werden. Durch sie könnte er abstumpfen, an Ecken und Kanten gewinnen, lernen, seinen Gegnern furchtlos entgegenzutreten und sie als Schachfiguren auf einem großen Brett betrachten. Denn letzten Endes war Abby nicht viel mehr als das: eine Schachfigur.

Julian hatte sie dazu gebracht, über den eigenenSchatten zu springen und sich zu entblößen. Für viele Menschen etwas Unmögliches.Ihm hingegen war es gelungen. Doch beim nächsten Mal würde er standhaft bleibenund sie weiter auf die Probe stellen. So wie sich selbst auch.

Rise of Theseus (Continuum-Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt