In seinen Fängen

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Unterwegs erfuhr Abby, dass Julian durch die Ideologie seines Vaters geprägt worden war, der – wie Abby bald herausfand – zentralen Figur in seinem Leben. Sein Vater lehrte Julian von klein auf, Unternehmen zu misstrauen und kritisch zu sein, was Abby beinahe aus jedem seiner Sätze heraushörte.

Eigentlich wollte sich Abby vom Geist der Auflehnung anstecken lassen. Doch Julians negative Einstellung und seine Argumente stachelten sie an, hier und da zu widersprechen. Während der Fahrt verloren sie sich in einer Diskussion über das Für und Wider, was die Existenz von Unternehmen anging. Abby vertrat die Meinung, dass Konzerne dank verhältnismäßig kleiner Preise Ärmeren erlaubten, sich auch mal etwas zu leisten. Julian hingegen argumentierte mit schlechter Entlohnung, unzähligen Überstunden und dem Sammeln von Daten. Ethan, der Fahrer, und Kendra, die vom Beifahrersitz immer wieder zu Julian hinübersah, hatten sich anfangs an der Diskussion beteiligt. Als sie jedoch im Hotelzimmer ankamen, trugen sie kaum noch etwas zur Thematik bei. Schließlich zogen sie sich zurück, um eine Zigarette zu rauchen.

„Na gut, von mir aus", gab sich Abby geschlagen. Julians Überzeugungsarbeit hatte sie zermürbt und ihr Magen knurrte. „Dann wäre es wohl das Beste, wenn man die Leistungen der Riesen nicht mehr in Anspruch nimmt."

Julian blies sich eine brünette Strähne aus dem Gesicht.

„Wo bleibt eigentlich die Pizza? Und deine Freunde? Sollten sie nicht längst wieder aufgetaucht sein?", wunderte es sie.

Er tippte etwas ins Handy, wartete, bis eine Antwort kam, und schrieb zurück. Abby erhob sich vom Bett, auf deren Kante sie im Eifer der Diskussion gesessen hatte, und schaute sich um. Der Raum wirkte unbewohnt. Nirgendwo lagen persönliche Dinge. Weder Kleidung noch Elektrogeräte oder Utensilien des täglichen Bedarfs.

Was zur Hölle ...?

Julian sah sie nicht an. Sein Kopf war gesenkt, doch der Blick schien in eine unbestimmbare Ferne gerückt zu sein. „Ich fand die High School schon immer öde", begann er und grinste ein wenig. „Wahrscheinlich gibt es kaum einen Teenager, der sich auf die Schule freut."

Sie verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. Ihr Verstand befahl, das Weite zu suchen, irgendetwas jedoch hielt sie davon ab, aus dem Zimmer zu stürmen.

„Schach hat ja noch einigermaßen Spaß gemacht. Der Debattierclub ging auch. Doch in den regulären Fächern schlief ich beinahe jedes Mal ein. Am schlimmsten war Mr. Morris. Du müsstest ihn noch kennen. Das war der, der ständig die Anwesenheitsliste vergaß und bei euch quasi Dauergast war."

„Ah!", machte Abby. Nun wusste sie wieder, wo sie Julian schon mal begegnet war. Nur war er ihr nicht besonders in Erinnerung geblieben.

Langsam hob er den Blick und fixierte Abby, worauf sie die Handtasche fester an den Körper drückte. Sein Blick war stechend, durchdringend. „Um in seinem Unterricht nicht einzudösen, flüchtete ich in Fantasien. Und in einer von ihnen kamst du regelmäßig vor ..."

Abbys Kehle schnürte sich zu. Auf einmal war ihr, als schoben sich die Wände auf sie zu, um sie zu zerquetschen.

Er blinzelte kein einziges Mal. Ein Mundwinkel hob sich, als er sagte: „Ich habe mich immer gefragt, wie du wohl nackt aussiehst."

Abby überlief es heiß und kalt. Sie fühlte sich wie paralysiert. Jetzt wurde ihr klar, dass sie hier mit ihm gefangen war, hier auf weniger als zwanzig Quadratmetern ohne irgendetwas in Reichweite, mit dem sie sich verteidigen könnte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

„Ach so!", rief sie in gespielter Verwunderung aus und hoffte, dass er die Panik aus ihrer Stimme nicht heraushörte. „Dann warst du auf unserer Senior High. Ich dachte mir schon, dass du mir irgendwie bekannt vorkommst."

In Julians Gesicht regte sich nichts.

„Hm, ich bin jetzt wirklich hungrig", log Abby und drehte ihm den Rücken zu. „Ich glaube, ich gehe dann mal."

„Zieh dich aus."

„Was ...?" Abby fuhr herum.

Julian reckte das Kinn vor. Mit einer Gleichgültigkeit wiederholte er die Forderung.

„Das ist doch wohl ein Scherz." Sie lächelte nervös. Schweiß sickerte durch ihre Kleidung.

Julian verschränkte die Arme vor der Brust und sog tief Luft durch die Nasenlöcher ein. Verlangte ein Mann von einer Frau, sich auszuziehen, bedeutete es nur eines. Doch in seinem Blick lag kein Begehren, viel mehr wirkte er kühl und fordernd. Eher so, als wollte Julian herausfinden, wie weit er mit seiner Unverschämtheit käme.

Abby musterte ihn, um ihn besser einschätzen zu können. Julian war größer als sie, wirkte unter seinem dunklen Shirt und der weit geschnittenen Hose allerdings eher schmächtig. Wenn sie es geschickt anstellte, könnte sie ihn zu Boden schleudern und zur Tür hetzen, sollte er ihr nahekommen. Noch trennten sie vielleicht anderthalb Meter, und Julian machte keine Anstalten, den Abstand zu verringern.

Sie verwarf ihren ursprünglichen Plan, weil ihr ein anderer eher zusagte.

Es musste schnell gehen. Abby spannte die Muskeln an und mobilisierte ihre Kräfte. Dann wirbelte sie herum und rannte zur Tür. Als sie den dunklen Flur des Zimmers erreichte, hörte sie Schritte, die lauter wurden. Ihre Hand schloss sich um die Türklinke, drückte sie nieder und öffnete die Tür einen Spalt breit, da krachte jemand mit voller Wucht gegen die Tür und schloss sie wieder.

Vor Schreck stieß Abby einen Schrei aus, machte einen Satz zur Seite und prallte dabei gegen die Wand. Julian lehnte mit dem Oberkörper gegen die Tür. Eine Strähne verlief quer über sein Gesicht. Er pustete sie weg.

Er war ihr zu nah. Viel zu nah. Zwischen sie passte nicht einmal ein ausgestreckter Arm. Ihr Blick huschte zur Türklinke.

„Versuch es erst gar nicht", mahnte er in einem ruhigen, jedoch eindringlichen Ton.

„Hör mal, das kannst du doch nicht machen." Abbys Stimme tönte höher als gewöhnlich.

„Geh zurück ins Zimmer und zieh dich aus."

Sie schluckte. Das war alles ein grässlicher Albtraum, aus dem sie garantiert jeden Moment erwachen würde. Eigentlich müsste sie versuchen, Julian zwischen die Beine zu treten und danach fliehen. Leicht genug wäre es ja. Doch Abby wusste nicht, wie das ging: jemand anderem wehzutun. Also stand Abby wie angewachsen da und starrte ihn an. Nichts an Julian wirkte wie eine Drohgebärde, dennoch ging von ihm Gefahr aus, Gefahr, die garantiert real werden würde, sollte sie sich ihm widersetzen.

„Hey, da draußen sind so viele hübsche, junge Frauen in deinem Alter, die gern ... Na ja, du weißt schon", plapperte Abby aufgeregt. „Wahrscheinlich hast du sogar eine attraktive Freundin."

Julian ließ ihre Versuche, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, an sich abprallen wie Regentropfen. Seine Brauen zogen sich ein wenig zusammen, als nervte ihn ihr Gerede.

„Ich werde dir nichts tun", sprach Julian. „Ich will dich nur ansehen."

Abbys Kehle war wie ausgetrocknet. Sie wollte die Handtasche aufheben. Da sie jedoch in Julians Nähe lag, traute sie sich nicht.

Obwohl ihr Herz gegen die Rippen prallte, spürte sie, wie Ruhe sie überkam. Ruhe, die daher herrührte, dass sie ihr Schicksal akzeptiert hatte.

Na schön, dachte sie trotzig, als sie zurück ins Zimmer ging, dann enthülle ich mich eben für dich. Dann siehst du meine Speckröllchen und meine Orangenhaut, du Mistkerl. Hoffentlich wirst du diesen Anblick nie mehr los und wirst es bereuen, mich zu deinem Opfer auserkoren zu haben.


Rise of Theseus (Continuum-Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt