Abby hatte keine Ahnung, wie sie nach Hause gekommen war. In ihrer Erinnerung war der Heimweg verschwommen gewesen. Sie wusste nur, wie die Beine sie vorwärts getragen hatten, wie sie in den Bus gestiegen und später ausgestiegen war. Ihre Gedanken kreisten um das Erlebte. In ihrem Kopf spielte sich das Geschehene immer wieder von vorne ab. Eine Endlosschleife an aneinandergereihten Erinnerungsbruchstücken, die mit der Zeit an Länge gewannen und sich zu einem Ganzen verknüpften.
Im Flur der gemeinsamen Wohnung zog sie die Schuhe aus, als Phil aus dem Wohnzimmer trat. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und blickte auf ihre Hände herab. „Keine Einkäufe?"
„Was?", erwiderte Abby mit Verspätung und starrte durch ihn hindurch. Abermals überlappten sich Bilder vor ihrem Auge; Julian am Fenstersims. Die kühle Arroganz in seinen Augen, das dunkelbraune Haar, die schwarze Kleidung, die stark mit dem hereinfallenden Sonnenlicht kontrastierte.
Zieh dich aus.
Abby zuckte zusammen.
„Alles okay?" Verwundert musterte Phil sie.
„Äh, ja. Ich habe in dem Laden nichts gefunden", log sie und fuhr sich durch das blonde Haar. „In einen anderen wollte ich nicht. Ist in der Arbeit heute eh spät geworden."
„Macht nichts", meinte er und sagte, dass er ohnehin etwas früher gekommen war und vor lauter Hunger Bratkartoffeln mit Spiegelei zubereitet hatte. Für sie sei genug übriggeblieben, fügte er hinzu und wünschte ihr guten Appetit.
Abby schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln. Ihr war nicht nach Essen zumute. Stattdessen beeilte sie sich, sich zu entkleiden, und verhüllte sich in den kuscheligen, übergroßen Bademantel. Das Oberteil und den Rock stopfte sie in den Wäschekorb und ging duschen.
Das warme Wasser spendete ihr Zuflucht, spendete ihr Trost. Mit einem Luffaschwamm und genügend Duschgel bearbeitete sie ihren Körper, als könnte sie die Ereignisse des Tages von sich abwaschen, sich reinwaschen, sie aus dem Gedächtnis verbannen.
Aber nichts half. Weder Phils Büroanekdoten oder seine Mahlzeit noch der gemeinsame Abend vor dem Fernseher, wo ihre Lieblingsserien liefen. Abby lächelte oder lachte, wenn sie es für angebracht hielt. Manchmal streute sie auch „Ja, wirklich?" zwischen ihre „Ahas" und „Ohos" ein, um Phil das Gefühl zu vermitteln, alles sei okay. Wirklich anwesend war sie dennoch nicht.
Wie üblich hatte Phil im Laufe des Abends eine Chipspackung geöffnet und langte immer wieder hinein. Ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden, tat Abby es ihm gleich.
„Na, wer war heute nicht beim Sport?"
Die Chipstüte verschwand aus Abbys Reichweite.
„Du", schoss sie wie aus der Pistole zurück.
„Ich möchte ja auch nicht abnehmen."
Abby kniff die Lider ein wenig zusammen. „Ich auch nicht."
„Aber ich dachte ..." Phil klang etwas enttäuscht, als hätte sie ein Versprechen gebrochen. „Wolltest du nicht selbst ein paar Kilos verlieren?"
„Herrje, Phil!" Abby schoss vom Sofa hoch und warf die Arme in die Luft. „Das sind doch nur paar Kilos, keine zehn, zwanzig!"
Ohne eine Reaktion abzuwarten, stürmte Abby aus dem Wohnzimmer. Etwas in ihrem Inneren pochte und drängte, ans Tageslicht zu gelangen.
„Wo willst du hin?", hörte sie Phil rufen.
„Ich mache mir eine Gesichtsmaske. Kann dauern", brachte sie hervor und verbarrikadierte sich im Badezimmer.
Abbys Puls raste. Hitze stieg in ihr auf. Sie hatte doch nur ein wenig zugenommen. Was machte dieses Bisschen denn aus? Liebte er sie nicht mehr, weil ihr Körper weicher geworden war? Welchem Fetisch zur Hölle war er denn erlegen?
Es kam über sie wie eine gigantische Welle. Tränen schossen ihr in die Augen, rannen über ihre Wangen und verloren sich in ihrem viel zu großen Pullover. Ein heftiger Weinkrampf erschütterte sie, und sie rutschte die Tür entlang, bis sie den kalten Boden unter sich spürte.
Abby wusste, dass nicht ihren Freund die Schuld traf. Phil hatte lediglich etwas Unpassendes an einem Tag gesagt, an dem sie ohnehin fragil gewesen war. Dass sie nicht aufhören konnte zu weinen, lag einzig und allein an diesem verdammten Typen, der sie genötigt hatte, sich so verletzlich zu präsentieren. Diesem Kerl, der sie gedemütigt hatte, der sie eingeschüchtert und gezwungen hatte, sich ihm auszuliefern.
Schniefend und schluchzend kroch Abby zum Waschbecken. Sie riss etwas Klopapier ab, um sich die laufende Nase zu putzen. Dann drehte sie den Wasserhahn auf, damit er ihr Weinen übertönte. Nicht, dass Phil auf die Idee käme, nachzufragen, was mit ihr los war. Denn sie ahnte, dass sich alles in ihr Bann brechen würde, dass sie sich alles von der Seele reden würde. Und Phil? Phil wäre wie vor den Kopf gestoßen. Er würde sich fragen, ob sie halluzinierte, oder ob sich wirklich alles so abgespielt hatte, wie sie behauptete. Wie jeder erwachsene Mensch würde er sie mit der Frage konfrontieren, warum sie überhaupt in das Fahrzeug gestiegen und ins Hotel gegangen war.
Wie sollte Abby ihm erklären, dass Neugier und Diskussionsfreude sie geleitet hatten? Dass von Julian solche Gleichgültigkeit ausgegangen war, als interessierte ihn nichts mehr als sein Ziel – nur dass sich dieses eben im Verlauf ihrer Unterhaltung offenbart hatte.
Phil würde wissen wollen, warum sie sich nicht gewehrt hatte. Wieso sie nicht öfter versucht hatte, durch die Tür zu verschwinden. Was würde Abby darauf antworten? Aus Angst vor Schlägen und Tritten? Aus Feigheit? Und was, wenn Phil ihr nicht glaubte? Wäre es schlimmer, als wenn er ihr die Geschichte abnahm und anfing, sie nach und nach zu verachten, weil sie so dumm und schwach gewesen war?
Abby wusste es nicht. Das Einzige, was sich scharf herauskristallisierte, war die Tatsache, dass sie Julian ebenso sehr wie sich selbst verabscheute. Sich selbst, weil sie nicht den Mumm besessen hatte, sich gegen ihn, einen Jungen, der die Pubertät noch nicht ganz hinter sich gelassen hatte, zu behaupten.
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Rise of Theseus (Continuum-Fanfiction)
FanfictionUm ein Anführer zu werden, muss der 21-jährige Julian Randol selbstbewusster und aggressiver werden. Zum "Üben" sucht er sich Abby aus. Er wollte die 28-Jährige schon immer mal nackt sehen ..., sich aber auf keinen Fall verlieben.