Die Entscheidung

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Fäuste donnerten gegen die Tür. Das Hämmern war seine Reaktion darauf, dass Abby die Klingel abgestellt und nicht auf das Klopfen reagiert hatte.

„Komm schon, Abby. Mach die Tür auf." Julians Stimme tönte längst nicht mehr flehend und freundlich wie vor einer Viertelstunde.

„Hau ab", bellte sie von der anderen Seite der Tür aus. „Sonst hole ich die Polizei."

Er lachte. Es war ein kehliges, raues, sexy Lachen, das Abby eine Gänsehaut bescherte und sie nur einen Moment vergessen ließ, dass sie ihn am liebsten auf den Mond schießen wollte – oder in die Sonne. „Nur zu", rief er. „Vielleicht kommen dann Hank und Ximena. Sie haben immer einen Snack für mich dabei. Oder Mateo und Nadim, die von mir mit Jugendslang versorgt werden. Wahrscheinlich kommen Hannah und Adam. Sie nehmen sowieso alles locker."

„Schon gut", knurrte Abby leise und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, die Julian und sie voneinander trennte. „Ich hab's begriffen, dass dich hier jeder kennt und dir scheinbar oder anscheinend nichts droht."

„Mach mir bitte auf und rede mit mir ..."

Abby reagierte nicht.

„... sonst singe ich was von „One Direction"."

Leise lachte sie auf. Als könnte eine Gesangseinlage etwas bewirken. Na ja, dachte sie, vielleicht würden die Nachbarn dann endlich die Polizei rufen und damit das tun, wozu sie selbst nicht fähig war.

Julian zögerte nicht lange und fing an zu grölen: „You′re insecure, don't know what for;
You′re turning heads when you walk through the door ..."

Abby wusste nicht, ob Julian sich Mühe gab oder seine Stimme bewusst verstellte, um sie als Folterinstrument zu nutzen. Sie hätte schwören können, dass bereits nach der zweiten Strophe irgendwo eine Scheibe zersprungen war, eine Katze kreischte und ein Hund zu bellen anfing, als Julians Stimme von den Wänden der Nachbarschaft widerhallte.

Das Grauen steuerte unaufhörlich auf den Höhepunkt zu und explodierte mit der Gewalt von tausenden von Bomben, als Julian Baby, you light up my world like nobody else;
The way that you flip your hair gets me overwhelmed
schmetterte. Der disharmonische Ton bohrte sich in Abbys Schädel und verursachte physische Schmerzen, die sie zwangen, die Hände auf die Ohren zu drücken. Nur so konnte sie verhindern, dass ihr Trommelfell platzte.

Als er Luft holte, witterte Abby ihre Chance. Sie brüllte: „Okay, okay, ich mache dir auf. Aber bitte hör auf, mich so zu quälen!"

„Hey." Er grinste, als die Tür aufging. Das Haar war auf eine wilde Art zerzaust und stand ihm gut. „Was ist denn da imClub vorgefallen? Warum bist du ohne ein Wort abgehauen?"

„Ich habe die Wahrheit über dich erfahren. Darüber, dass du von unseren Treffen berichtet hast."

„Was?!" Julians Augen wurden riesig. „Wer behauptet denn sowas Bescheuertes? War es Bill? – Nein warte, bestimmt hast du die Info von Kendra."

Die Worte purzelten aus ihm heraus und prasselten auf Abby nieder. Zwei Mal hatte sie versucht, anzusetzen, um etwas zu erwidern, allerdings ohne großen Erfolg.

„Ich schwöre, dass ich nie über uns erzählt habe." Aber dann schien ihm etwas eingefallen zu sein, und er rieb sich den Hinterkopf, als er in leiserem Ton fortfuhr: „Na ja, es kann sein, dass ich mal im Suff etwas Dummes von mir gegeben habe."

Abby sog scharf Luft ein.

„Das bereue ich auch sehr, und es ist auch nicht wieder vorgekommen. Ich schwöre!" Flehend sah Julian sie an. „Bitte gib mir eine Chance, mich zu bessern. Jeder hat doch eine zweite verdient, oder?"

Sie zögerte.

Eine Weile lang verlor niemand von ihnen ein Wort. Schließlich stieß Julian Luft aus und ließ die Schultern sinken. So viele Emotionen rangen in Abby um Oberhand, dass sie hin- und hergerissen war zwischen ihn zu küssen oder ihn fortzujagen.

Zwischen ihnen war so viel vorgefallen, so viele erniedrigende Dinge, die sie hin und wieder heimsuchten. Sie dachte an die Demütigung, die Julian ihr jedes Mal aufs Neue beschert hatte. Doch dann drängte sich die Erinnerung an jenen Nachmittag im Einkaufshaus, als Julian sie an sich gezogen hatte, um sie zu beruhigen. In seinen Armen hatte sich Abby auf eine ihr bis dahin unbekannte Art und Weise sicher und geschützt gefühlt.

Auch erinnerte sie sich an die Messe, auf der sie Julian und seine Freunde unterstützt hatte. Sie hatte sein Engagement und seine Führungsqualitäten bewundert. Sogar mehr: Er war so verdammt sexy an jenem Tag gewesen, dass sie sich ihm am liebsten im Wagen bereits hingegeben hatte. Abby fühlte sich so wahnsinnig zu ihm hingezogen, dass es sie auch jetzt Kraft kostete, sich nicht auf ihn zu stürzen.

„Ich verstehe ...", murmelte Julian, weil er ihr Schweigen als eine eindeutige Ablehnung wahrgenommen hatte, und machte auf dem Absatz kehrt.

Abby wusste, dass die Zeit gekommen war, sich zu entscheiden. Entweder würde sie ihm immer vorhalten, wie schäbig er mit ihr umgesprungen war, oder sie würde ihm verzeihen.

„Warte, Julian", rief Abby, und er blieb tatsächlich stehen.

Er fuhr zu ihr herum.

Versöhnlich lächelte Abby. „Magst du eine Coke?"

Rise of Theseus (Continuum-Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt