Auf einer Wellenlänge

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Julians kritischer Blick flog über die Kisten. „Da steht ja gar nichts drauf."

Abby nickte. Ihre Hände wurden vor Aufregung nass. „Ich dachte, ich mache sie mal auf."

„Dann helfe ich dir."

Gemeinsam öffneten sie die Kartons und fanden allerlei interessante Sachen, die allerdings gerade nicht gebraucht wurden. Schließlich stieß Abby auf das richtige Paket.

„Endlich gibt es wieder was zu naschen." Julian grinste, jedoch nicht anzüglich, sondern schlichtweg erfreut.

„Na dann ..." Abby deutete auf die offene Tür, die als Ein- und Ausgang fungierte. Doch Julian, der zwischen ihr und der Welt da draußen stand, machte keine Anstalten, sich wegzubewegen. Stattdessen ging er in die Hocke und stützte die Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab. Lächelnd sah er sie an.

Abby fragte sich, was er vorhatte. Aber es gefiel ihr, mit ihm auf engem Raum zu sein. Dass er nur halb so groß war, wie sie, wirkte auf sie wie ein Zeichen von Versöhnung und Wiedergutmachung und bot eine willkommene Abwechslung zu ihren früheren Treffen, bei denen er sich vor ihr wie ein Schrank aufgebaut hatte. Hatte Julian einst beabsichtigt, sie durch Größe einzuschüchtern, signalisierte er ihr nun, dass er nicht vorhatte, ihr etwas anzutun, und dass er keine Angst hatte, unterwürfig und unterlegen zu wirken.

„Ich bin froh, dass du heute da bist", gab er unumwunden zu.

„Und ich bin froh, dass du mich gefragt hast. Es ist schön, sich für ein solches Projekt einzusetzen", sagte sie.

Seine Augen wirkten durch die geweiteten Pupillen dunkler, wodurch ihnen das Stechende genommen wurde, das für seinen Blick typisch war. Julian sah sie wieder so an wie an jenem Abend in Chucks Haus, voller Wärme und Herzlichkeit. So, so ... Abby wollte es sich nicht eingestehen. Bestimmt irrte sie sich. Ja, garantiert sogar. Trotzdem konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie Verliebtheit in seinem Blick zu erkennen glaubte.

„Du siehst heute wirklich, wirklich gut aus", bemerkte er leise und schaute zu Boden, als schämte er sich für das Gesagte. Doch dann fand sein Blick erneut den ihren.

„Du auch", erwiderte Abby und mutierte auf einmal zu einem schüchternen Mädchen, das seinen Schwarm anhimmelte. Leichte Panik breitete sich in ihr aus, kaum hatte sie die zwei Worte ausgesprochen. Um wieder sicheres Terrain zu gewinnen, fügte sie hinzu: „Damit will ich sagen, dass du Lebensfreude und Optimismus ausstrahlst. Wie ein Mann, der mit sich und der Welt im Reinen ist."

Wieder schaute Julian zu Boden und rieb sich am Hinterkopf. „Dafür gibt es auch einen Grund", murmelte er.

„Bitte?"

Plötzlich wirkte Julian sehr geschäftig. Er schnappte sich den Karton und stieg aus dem Wagen. Mit dem Rücken zu ihr sprach er: „Ich habe ein neues Hobby für mich entdeckt: Mountainbike. Daran wird es wohl liegen."

Abby verließ ebenfalls das Fahrzeug.

„Außerdem ist es viel schöner, für etwas aus Leidenschaft zu brennen, denn aus Hass."

„... und man muss sein Ziel nicht jagen." Den Seitenhieb konnte sich Abby nicht verkneifen.

Julian lächelte gequält und rieb sich den Hinterkopf. Ihm schien es unangenehm zu sein, auf seine früheren Verfehlungen hingewiesen zu werden. „Ja, das kostet ziemlich viel Kraft."

Einen Augenblick lang schwiegen sie.

„Du bist richtig engagiert", bemerkte Julian bewundernd.

Abby nickte. „Mir gefällt es, etwas Sinnvolles zu leisten."

Sie hatten sich in den letzten Minuten eingestanden, dass sie sich Gedanken gemacht über das, was sie sich gegenseitig auf der Party an den Kopf geworfen hatten, und ihre Lehre daraus gezogen hatten.

„Dann wirst du öfter dabei sein, wenn wir etwas auf die Beine stellen?"

Irgendwas war zwischen ihnen anders geworden. Es war, als hätten sie eine Ebene verlassen, um auf eine andere zu gelangen. Die Art, wie Julian sie gefragt hatte, wie er dabei lächelte und erwartungsvoll ansah, hätte viel besser zu einer anderen Frage gepasst, die Abby nur zu gern aus seinem Mund gehört hatte, nämlich: Willst du mit mir ausgehen?

„Also?"

Nun war es Abby, die den Kopf senkte. „Mal schauen", gab sie schüchtern von sich.

„Ach, hier seid ihr!"

Kendra kam schnellen Schrittes auf sie zu. Sie schaute erst Julian an, dann Abby, und Kendras Lächeln verblasste, während die Augenbrauen sich zusammenzogen und sich eine Falte in ihre Stirn grub.

„Gibt's was, Kendra?" Julians Stimme klang auf einmal neutral.

„Ich wollte etwas mit dir besprechen." Kendra warf Abby einen Blick zu, den sie als Verschwinde deutete. Abby wollte ohnehin gehen. Also schnappte sie sich die Kiste und machte sich auf den Weg.

Auf dem Weg zur Messe genoss sie die letzten, noch verhältnismäßig warmen Sonnenstrahlen im Gesicht. Sie fühlten sich nicht mehr stechend wie kleine Nadeln an, als die Temperatur immer höher kletterte und die Kleidung an den Körper klebte. Die Sonnenwärme ließ allmählich spürbar nach und kündete den Übergang zum goldenen Herbst an. Wehmut erfasste Abby. Mit dem herannahenden Herbst überkam sie das Gefühl, dass nicht nur dieser ungewöhnliche, geradezu irre Sommer, sondern auch in ihrem Leben etwas zu Ende ging.

Laute Stimmen ließen Abby kurz innehalten. Sie fuhr herum und sah, wie sich Julian und Kendra stritten. Beide hatten die Stimmen erhoben, beide gestikulierten. Als Kendra den Kopf in ihre Richtung drehte, tat Abby, als hätte sie nichts mitbekommen, und setzte den Gang rasch fort.

Rise of Theseus (Continuum-Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt