Bei ihrer letzten Begegnung mit Julian war es, als hätte jemand die Bauklötzchenwelt, in der Abby lebte, mit einem Tritt vernichtet. Da lagen sie nun, die Bauklötze. Wild in alle Richtungen verstreut und weit weg von ihren Nachbarn, mit denen sie eine solide Einheit gebildet hatten. Ihre kleine, heile Welt war durcheinander und ihre Gedanken ebenso.
Gleich am Montag hatte Abby Urlaub beantragt und die gesamte Woche, die ihr genehmigt worden war, bei ihren Eltern verbracht. Ihr Häuschen stand so, wie ein paar andere in unmittelbarer Umgebung, umgeben von Wald und Wiesen und bot viel Möglichkeit, spazieren zu gehen. Diese nutzte Abby täglich, um den Kopf freizubekommen. Manchmal leistete ihr ihre Mutter Gesellschaft, manchmal der Vater. Doch am liebsten war sie allein unterwegs.
Im Laufe dieser sieben Tage fand sie genug Gelegenheit, ihr Leben und ihre Ziele zu hinterfragen, und lernte dabei mehr über sich, als in den vergangenen Jahren. Sie ging der Frage auf den Grund, warum sie sich damals Julian und seinen Mitstreitern angeschlossen hatte, und erinnerte sich an den prickelnden Zauber, der jenem Moment innewohnte, als Julian ihr das Gefühl vermittelt hatte, die Zustände zusammen mit ihm und seinen Freunden zu verbessern. Es hatte sich gut angefühlt, zu glauben, Teil von etwas Größerem zu sein, und nicht nur vor sich hin zu vegetieren. Wut überkam sie, wenn sie daran dachte, dass er sie einst reingelegt hatte, um seine perversen Spielchen mit ihr zu spielen. Aber die Motivation, die sie dazu bewegt hatte, ins Fahrzeug zu steigen, verankerte sich in ihrem Gedächtnis und verfestigte sich, während sie durch den Wald streifte.
Ein weiterer Grund, warum Abby mitgefahren war, war natürlich Julian Randol selbst. Sie müsste lügen, wenn sie behauptete, sie hätte ihn nicht wenigstens ein bisschen anziehend gefunden. Natürlich war Julian ein attraktiver, junger Mann mit seinen kantigen Gesichtszügen, der imposanten Nase und den geschwungenen Lippen. Seine blauen Augen wirkten auf sie wie Magnete. Es fiel ihr schwer, sich seinem Blick zu entziehen. Ebenso, wie es ihr praktisch unmöglich fiel, an einem See vorbeizugehen, ohne ihn anzuschauen.
Zweifelsohne hatte Julian sie miserabel behandelt. Wie eine Bordsteinschwalbe, nur ohne Sex. Auch hätte Abby sich deutlich vehementer wehren müssen, anstatt ihn wieder und wieder zu treffen. Dennoch vermisste sie ihn. Wie einen Freund, der er nie gewesen war, wie einen Liebhaber, den sie höchstens geküsst und berührt hatte. Ihr fehlte der ernste, nachdenkliche Junge mit einem Faible für dunkle Kleidung. Noch immer fragte sich Abby, wo sich der Schalk in der schlanken Gestalt versteckte, und wie sie ihn aus Julian herauskitzeln konnte.
Es hatte keinen Sinn, sich selbst zu belügen. Selbstverständlich hätte sich Abby von Anfang an wie eine Erwachsene verhalten müssen. Sie hätte ihm klarmachen sollen, dass er nicht auf diese Weise mit ihr umspringen durfte. Hatte sie jedoch nicht, und zwar, weil ein winziger Teil von ihr diesen Kick genossen hatte. Durch die Erpressung war Abby aus den starren Strukturen des Alltags herausgebrochen. Sie genoss ein erotisches Abenteuer und redete sich dabei ein, dass sie diesem machtlos ausgeliefert war. Und es hatte ihr gefallen, von einem jüngeren und überaus attraktiven Mann dominiert zu werden, obwohl sie wusste, dass im Grunde sie die meiste Zeit über Oberhand behalten hatte, weil sie dem Ganzen Einhalt hätte gebieten können.
Eines Tages fiel der Zeitungsartikel in Abbys Hände, in der es darum ging, dass Julian zusammen mit seinen Leuten den Bogen überspannt hatte. Sein Gesicht schwarzweiß gedruckt zu sehen, versetzte Abby vor Freude einen leichten Stich. Julian blickte finster drein, als hätte er mit Vabid noch lange nicht abgeschlossen. Zugleich strotzte das Bild von Aufsässigkeit und starkem Willen, was es für Abby kostbarer machte. Heimlich schnitt sie das Bild aus und steckte es in ein altes Tagebuch. Von Zeit zu Zeit holte sie es heraus und fuhr die Konturen seines Gesichts nach.
Abby konnte sich nicht erklären, warum sie sich trotz allem zu Julian hingezogen fühlte. Vielleicht lag es an ihrem Vater, der sich nie von bestimmten, fest zementierten Meinungen und Ansichten abbringen ließ und Abby keinen Verhandlungsspielraum gab, als sie noch ein Kind und Teenager gewesen war? Oder eher, weil Julian die Macht ausstrahlte, etwas verändern zu können? Meistens war Abby allerdings der Ansicht, dass sie am Stockholm-Syndrom litt. Sie hatte Sympathien für ihren Peiniger entwickelt. Und während sie auf einen Therapieplatz wartete, pflegte sie ihre positiven Emotionen für Julian, indem sie mit ihm mitfühlte.
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Rise of Theseus (Continuum-Fanfiction)
FanfictionUm ein Anführer zu werden, muss der 21-jährige Julian Randol selbstbewusster und aggressiver werden. Zum "Üben" sucht er sich Abby aus. Er wollte die 28-Jährige schon immer mal nackt sehen ..., sich aber auf keinen Fall verlieben.