Der Trinkhalm

4 1 0
                                    

In den folgenden Tagen ging Abby trainieren. Ihre Wangen brannten noch immer vor Scham, wenn sie zurück an jenen Nachmittag dachte. Aber mit jeder körperlichen Anstrengung erlangte sie Selbstsicherheit. Sie nahm sich vor, Julian den Sieg über sich selbst nicht zu gönnen, und keinesfalls wieder zulassen, dass er ihre Würde raubte. Deshalb und nur deshalb schwitzte sie auf dem Laufband, stemmte leichtere Gewichte und fuhr Rad.

Eine Woche nach ihrer Begegnung mit Julian hatte sich Wut in ihrem Bauch aufgestaut und das Schamgefühl gedämpft. Sie malte sich aus, wie sie Julian begegnete und sich an ihm rächte. Vielleicht würde sie ihm ins Gesicht spucken. Oder ihm eine Ohrfeige verpassen und drohen, sollte er ihr erneut

nahekommen, dass sie ihm alle Finger bräche. Mit einer Mischung aus Aufregung und Kampflust sehnte Abby ein erneutes, zufälliges Treffen herbei, weshalb sie regelmäßig mit Freundinnen oder Kolleginnen shoppen oder auswärts essen ging.

Nach einem besonders harten Training im Fitnessstudio gönnte sie sich mit ihrer besten Freundin Laurie Wraps und einen Cheese Bucket für zwei im Kentucky Fried Chicken. Laurie war ein Jahr jünger als Abby und beendete gerade ihr Masterstudium. Da Abby ohnehin nichts in Bezug auf den technischen Studiengang verstand, plauderten sie selten über das Studium. Doch wenn Laurie über die Dozenten und Professoren mit ihren Macken erzählte, hörte Abby wahnsinnig gern zu.

„... und dann fiel Moore die Ledertasche auf den Boden", fuhr Laurie fort. „Bücher rutschen heraus. Du wirst nie erraten, welche Überschrift ich lesen durfte!"

„Was denn?" Abby hatte sich vorgelehnt und drängte Laurie, weiter zu erzählen.

„Der Titel lautete: Wie eröffne ich einen Hundefrisiersalon."

Beide brachen in schallendes Gelächter aus. Kaum jemand drehte sich nach ihnen um, denn die anderen Gäste redeten so laut, als gäben sie sich Mühe, die Restaurantmusik zu übertönen.

„Der, der sich der Mathematik verschrieben hat?", fragte Abby ungläubig nach. Sie musste beinahe brüllen, um gegen den Lärm anzukommen.

Eifrig nickte ihre Freundin. „Aber das ist noch nicht alles. Erst neulich ..."

Abby bemerkte ihn aus dem Augenwinkel heraus, ohne den Kopf gehoben zu haben. Zusammen mit einem Freund war er gerade in der Warteschlange an der Kasse und in ihr Sichtfeld vorgerückt. In seiner dunklen Kleidung verschmolz er beinahe mit der homogen gekleideten Menge, und dennoch stach er mit seinem hellen Teint und Augen, so blau wie das Eis der Antarktis, heraus.

Ihre Blicke kreuzten sich wie Klingen. Abby zuckte ein wenig zusammen, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Julian blinzelte und öffnete den Mund, doch dann sammelte er wieder seine Sinne und wirkte so unnahbar und ablehnend wie beim letzten Mal.

„Hörst du mir zu?"

„Sorry, Laurie", murmelte Abby. „Also, wie war das nochmal?"

Laurie murrte, wiederholte jedoch, was sie eben gesagt hatte. Abby bemühte sich, der Unterhaltung zu folgen. Dennoch konnte sie nichts dagegen ausrichten, dass sie immer wieder zu Julian hinübersah.

Mittlerweile hatten er und sein Begleiter gezahlt und suchten sich einen freien Platz. Zu allem Übel wählte Julian den Tisch, der schräg gegenüber Abbys und Lauries stand. Zwar trennten beinahe zwei Meter die Paare voneinander, trotzdem erschien Abby der Abstand nicht groß genug zu sein. Dann eben so, dachte sie kampflustig. Sie durchbohrte Julian mit Blicken, während er sie ab und an gelassen erwiderte. Auch hier gab er ihr inmitten all der Menschen das Gefühl, ihr überlegen zu sein. Abby ballte die Hand zur Faust.

„Alles okay?" Laurie schaute sie leicht irritiert an. Dann folgte sie Abbys Blick, worauf Abby in die Hände klatschte, um ihre Aufmerksamkeit zurückzuerlangen.

Rise of Theseus (Continuum-Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt