Abby wollte noch etwas zum Abendessen besorgen und stieg deshalb mehrere Stationen früher aus dem Bus aus. Immer wieder zeigte sich die Sonne hinter den Wolken. Die warmen Strahlen prickelten auf ihren unbedeckten Unter- und Oberarmen. Einen Augenblick lang blieb sie stehen, schloss die Augen und hob den Kopf. Während die Menschen an ihr vorbeihasteten, genoss sie die Wärme auf der Haut und die sanften Küsse, die ihr Gesicht bedeckten, so wie Phil sie schon lange nicht geküsst hatte.
Als Abby die Lider wieder öffnete und den Gang fortsetzen wollte, drang eine männliche Stimme zu ihr durch. Sie tönte gedämpft und die Worte schallten, als wäre ihr Besitzer von Mauern umringt. Abby wusste nicht genau warum, doch aus irgendeinem Grund weckte die Stimme ihre Neugier. Vielleicht lag es daran, dass da jemand seine Meinung voller Überzeugung vortrug. Womöglich lag es aber auch daran, dass es in ihr die Erinnerung an Veranstaltungen wachrief, die Phil und sie in ihrem ersten gemeinsamen Jahr besucht hatten, ehe Serien ihren Feierabend bestimmten.
Abby folgte der Stimme in eine Seitenstraße. Von dort ging es weiter durch eine Überdachung ins Innere eines Gebäudekomplexes. Menschen hatten sich um jemanden versammelt, der breitbeinig auf einer Tischtennisplatte stand und energisch gestikulierte. Abbys Blick wanderte durch die Menge, und sie stellte verwundert fest, dass sich hier gut zwanzig, dreißig überwiegend junge Männer und Frauen versammelt hatten, die an den Lippen des jungen Mannes im Zentrum des Hofs hingen. Auch fiel ihr auf, dass sie mehrheitlich Grau, Blau und Schwarz trugen. In ihrem locker sitzenden, grünen Oberteil und dem geblümten hellen Rock hob sich Abby von ihnen ab wie eine Blume, die zwischen Gestein wuchs.
„Der Kunde ist das am besten erforschte Lebewesen", fuhr der junge Mann fort. Daraufhin lachten einige verhalten. „Das heißt, sie wissen alles über euch; was ihr kauft, wie oft ihr ein Produkt braucht, welche Krankheiten euch plagen und wie es um eure Gesundheit steht. Fremden Leuten ist längst bekannt, was euer Lieblingsgericht ist und wie ihr den Abend verbringt. Nicht einmal eure Eltern stehen euch so nah, wie es diese Datensammler tun."
Voller Interesse musterte Abby den jungen Mann und kramte in ihrem Gedächtnis nach einem passenden Namen und weiteren Daten. Aber so sehr sie sich auch bemühte, sie kam einfach nicht drauf, warum er ihr bekannt vorkam.
„Als wäre es nicht schlimm genug, können die Konzerne auch Verknüpfungen herstellen", warnte er die Menge. „Somit rekonstruieren sie eure Familienverhältnisse und gewinnen noch mehr Material, das für uns alle eines Tages zum Verhängnis wird. Denn sie handeln getreu dem Motto: Halte deine Freunde nahe bei dir, aber deine Feinde noch näher."
Abbys Lippen umspielte ein süffisantes Lächeln. Herrje, ein Fanatiker, dachte sie bei sich, während Begriffe wie Infiltration, Marktmacht und Kontrolle fielen. Sie wollte gerade kehrtmachen, als sein Blick sie streifte ... und sofort zu ihr zurückkehrte. Einen Moment lang war ihr, als ob Erkenntnis ihn durchströmte, als hätte auch er sie erkannt. Der Bick aus den strahlend blauen, kühlen Augen blieb an ihr haften, wie um sie am Gehen zu hindern.
„Deshalb rufe ich dazu auf, die Marktriesen zu boykottieren", rief er.
„Ja, genau!", ertönte aus der Menge.
Er blickte über die Köpfe der Anwesenden hinweg, nur um wieder zu Abby zurückzukehren. „Bestellt nichts bei Amazon, trennt euch von euren iPhones und Macs, weicht auf andere Suchmaschinen aus und bleibt kritisch! Denkt daran: Je größer die Konzerne, desto mehr Macht und finanzielle Mittel haben sie, um die Politik zu manipulieren. Und glaubt mir, nichts wird in unserem Sinne geschehen."
Nun hatte Abby genug gehört. Der Hunger meldete sich mit einer unerträglichen Leere im Bauch. Sie kramte nach ihrem Smartphone, um Phil Bescheid zu geben, dass sie sich etwas verspätete, und machte sich auf den Weg zur Hauptstraße. Hinter ihr löste sich die Versammlung allmählich auf, und die Schnelleren überholten sie bereits.
Nur einer blieb neben ihr und hielt ihr Tempo bei. Überrascht registrierte sie, dass es der junge Mann war, der eben die Rede gehalten hatte.
„Und ... stimmst du mir zu?", fragte er sie geradeheraus wie eine Freundin, die er schon länger kannte.
Abby grinste. „Teilweise."
Er überholte sie ein wenig, um sich herumzudrehen und rückwärtszulaufen, damit er ihr ins Gesicht blicken konnte. „Hast du Schwachpunkte in meiner Rede gefunden?"
Einen Moment lang wusste Abby nichts darauf zu erwidern. Wer war er? Wen hatte er in ihr erkannt, dass er sie in ein Gespräch verwickelte? Und vor allem: Warum??
„Na ja, nicht alle Konzerne verfolgen das Ziel, die Menschheit zu versklaven ..."
„... denn das ist sie bereits. Nur sind ihre Fußfesseln unsichtbar", fiel er ihr ins Wort.
„Inwiefern?", wollte Abby wissen.
Anstatt ihr zu antworten, bat er einen Freund, mit dem Auto vorzufahren. Dieser verschwand, noch ehe Abby ihre Frage wiederholen konnte.
„Das ist ein recht komplexes Thema", antwortete der junge Mann ausweichend. „Das können wir gern in aller Ruhe erörtern."
Sie rollte mit den Augen. „Wie dem auch sei. Nicht alle Konzerne sind schlecht."
„Sind sie nicht. Es sind die Menschen, die sie regieren."
„Von mir aus." Abby lächelte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nicht jeder CEO an der Spitze eines Konzerns will uns in Marionetten verwandeln."
„Wenn er im Sinne der Firma handelt, so hat er dafür zu sorgen, dass sich ihr Stand zementiert", wandte er prompt ein. „Dafür muss er über Leichen gehen."
„Und wenn er es nicht will?", fragte Abby herausfordernd.
„Dann nimmt eben jemand seinen Platz ein, der kaltblütig genug ist."
Abby legte den Kopf schräg und blieb stehen. „Woher dieser Pessimismus?"
Ein dunkler Wagen rollte heran und stoppte neben ihnen.
Der junge Mann schüttelte langsam den Kopf. „Kein Pessimismus. Realismus und Recherche."
„Du bist noch so jung. Du solltest anderen Hobbys nachgehen." Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, biss sie sich auf die Unterlippe. Sie klang genauso wie heute früh, als sie Dylan zu mehr Sport geraten hatte, weil er mal wieder wegen Müdigkeit im Sekretariat erschienen war. Hier handelte es sich weder um einen Schüler noch um einen Teenager, der belehrt werden musste.
„Es ist gefährlich, wenn die Konzerne zu viel Einfluss auf den Privatsektor ausüben", sagte er eindringlich und trat dabei einen Schritt auf sie zu, als hinge das Wohl aller davon ab, dass sie sich ihm anschloss.
„Ja, schon ..."
„Willst du erfahren, woher ich das weiß?"
Sie trat einen Schritt zurück, weil es ihr unangenehm war, wie wenig Platz zwischen ihnen war. Er mochte ein ganzes Stück größer sein als sie, dennoch überkam sie Unbehagen. „Ehrlich gesagt, würde ich viel lieber etwas essen."
„Dann steig ein." Schon hatte er eine der hinteren Türen geöffnet. „Wir lassen uns Pizza und Nudelgerichte ins Hotel liefern und bauen unsere Strategie weiter aus."
Abby zögerte. Einerseits interessierte es sie durchaus, was diese Untergrundbewegung plante. Andererseits hatte sie ein mulmiges Gefühl, mit Menschen unterwegs zu sein, die sie nicht kannte.
„Übrigens, ich heiße Julian", sagte er, ehe er im Wageninneren verschwand. Durch die offene Tür stellte er den Blickkontakt zu ihr her und meinte: „Du wirkst wie jemand, der Lücken in unserem Vorhaben durch kritisches Hinterfragen schließen könnte."
Abbys Wangen prickelten vor Hitze, die in ihr aufstieg.
Ihr Blick schweifte über den Fahrer, Julian und eine junge Frau, die freundlich lächelte.
Mit einem Mal war die Luft elektrisierend. Diese jungen Menschen strahlten Entschlossenheit aus und strotzten vor Energie, die in Herzensprojekte floss. Abby spürte förmlich ihren starken Willen, die Welt zu verändern, und ließ sich gern damit anstecken. Es war aufregend, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die Potenzial hatte, mit ihrer Hartnäckigkeit und Ausdauer etwas zu verändern.
Abbys Ängste schwanden, und so nahm sie auf dem Rücksitz Platz.
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Rise of Theseus (Continuum-Fanfiction)
FanfictionUm ein Anführer zu werden, muss der 21-jährige Julian Randol selbstbewusster und aggressiver werden. Zum "Üben" sucht er sich Abby aus. Er wollte die 28-Jährige schon immer mal nackt sehen ..., sich aber auf keinen Fall verlieben.