Richtungswechsel

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Die ersten Wochen nach dem Vorfall bei Vabid verflogen im Nu. Es war, als hätte Julian mit dieser unüberlegten Aktion sämtliche, sorgfältig platzierte Säulen weggefegt, auf denen er seine Strategie gegen die mächtigen Konzerne errichtet und gefestigt hatte. Mit nur einer unklugen Handlung hatte er sich selbst ein Messer in den Magen gerammt und von Knall auf Fall alles verloren, was ihm auch nur ein wenig Macht über die Gegner verliehen hatte.

Julian hatte sich für ein Probewohnen bei Alec entschieden. Er mochte seine Stiefmutter, doch nach der Geschichte mit dem Sportartikelproduzenten wollte sie das Geschehene wieder und wieder besprechen, um ihn besser zu verstehen und um ihn auf subtile Weise zu belehren. Darauf konnte Julian jedoch verzichten. Was er brauchte, war, die Sache mit sich selbst auszumachen.

Eine Weile lang dürstete es ihn, Bill eine reinzuhauen. Schließlich war es Bill, der ihn auf die grandiose Idee gebracht hatte, Graham eine Lektion zu erteilen. Aber Bill hielt sich in den Tagen nach den Geschehnissen bedeckt. Darüber hinaus verrauchte Julians Wut, weil er erkannte, dass die Schuld allein auf seinen Schultern lastete. Bill hatte ihm keine Waffe an den Kopf gehalten und ihn dazu gezwungen. Er hatte lediglich einen Funken entfacht, der dank Julian ein Feuer ausgelöst hatte.

Tagsüber flüchtete sich Julian in die Arbeit. Zusammen mit Alec erledigte er gewissenhaft, was man ihm auftrug. Die Männer-WG funktionierte reibungslos. Alec verbrachte deutlich mehr Zeit in der Arbeit, und wenn er heimkam, spielten sie Videospiele oder schauten sich Filme oder Serien von Streaming-Dienst-Anbietern an. Doch in der Zeit, in der Julian allein war, marterte er sich mit Selbstvorwürfen. Der Anführer hatte seine Gefolgschaft verloren. Niemand antwortete ihm, als er eine Rundmail an alle wegen einer geplanten Aktion gegen einen Marktriesen plante. Niemand machte sich die Mühe, ihm auch nur ein Wort zurückschreiben. Sogar Ethan, der seine WhatsApp-Nachrichten erhielt und offensichtlich las, meldete sich bei ihm.

An Abenden, wenn er keine Gesellschaft wünschte, zog sich Julian zurück, drehte die Musik auf und arbeitete an seinem Manifest gegen die drohende Versklavung durch Marktführer. Manchmal, wenn er gerade nicht weiterwusste, dachte er mit Wehmut an seinen Vater und sehnte sich nach seinem Trost. Immer wieder schweiften seine Gedanken auch zu Abigail ab, und er fragte sich, ob sie ihm je verzeihen könnte.

Julian verfluchte Jasmine und die komplette Gang von Liber8, der radikalen Gruppe, die seit ihrem Auftauchen Unruhe in sein bis dahin überschaubares Leben gebracht hatte. Er hasste sie, weil sie ihn an jenem Abend bearbeitet und negativ beeinflusst hatten. Ihretwegen hatte Julian geglaubt, sich von Grund auf ändern zu müssen, stärker, aggressiver und entschlossener sein müssen. In der Bemühung, sich zu transformieren, hatte er sich selbst verleugnet und war zu einem Menschen mutiert, den er weder erkannte noch besonders leiden konnte. Ebenso war es auch seinen einstigen Mitstreitern ergangen. Denn von ihnen nahm in den folgenden Wochen niemand mehr Kontakt zu ihm auf.

Aber Liber8 hatte ein Gutes hervorgebracht: Es hatte Abigail in seine Arme getrieben. Von sich aus hätte Julian niemals den Mumm gehabt, sie anzusprechen. Erst durch die Mission, ein vermeintlich besserer Anführer zu werden, hatte er Kontakt zu ihr hergestellt, wenn auch auf unrühmliche Art und Weise.

Manchmal fuhr Julian in Alecs Wagen an seiner ehemaligen Senior High vorbei und hoffte, einen Blick auf Abby zu erhaschen. Doch sie war wie vom Erdboden verschluckt. Er sah sie erst an einem Dienstag wieder, als sie zusammen mit einer Kollegin zur Bushaltestelle ging.

An jenem Nachmittag trug Abby eine weiße, leichte Jacke und eine enganliegende, hellblaue Hose, die den schön geformten Beinen schmeichelte. Sie lächelte, doch sie wirkte nicht glücklich.

Julian widerstand dem Drang, aus dem Auto zu steigen und auf sie zuzugehen. Was sollte er ihr denn auch sagen? Dass er sie wie Dreck behandelt hatte? Dass er, der sich für Menschenrechte einsetzte, die ihren oft genug zerstampft hatte? Das war zu offensichtlich.

Sie würde ihm wahrscheinlich ins Gesicht spucken und auf ihn einschlagen, sollte er sich ihr nähern.

Das hätte er wenigstens verdient.

Julian konnte ihr einfach nicht sagen, dass er sie gern in seiner Nähe hätte, dass sie ihm in unpassenden Momenten vor dem geistigen Auge erschien und ihn vom Arbeiten abhielt und dass der Kuss vor Wochen etwas in ihm ausgelöst hatte, was die Farben und die schönen Düfte intensivierte und seine Welt mit der Kraft von tausend Sonnen erhellte, ihm aber gleichzeitig auch eine Heidenangst einjagte, weil er es so nicht kannte.

Er hatte sie dabei beobachtet, wie sie in den Bus stieg. Dann machte auch er sich auf den Weg.

Als Julian den Wagen parkte, fiel ihm ein junger Mann auf, der vor Alecs Haus wartete. Julian ließ das Auto automatisch verriegeln.

„Schicke Villa!", sprach Ethan. „Hier würde es mir sicher auch gefallen."

Julian trottete auf ihn zu. Sie kannten sich schon so lange. Doch nach dem Vorfall war es, als hätten sie sich entfremdet. Julian erinnerte sich noch zu gut an die Standpauke, die Ethan gehalten hatte. Worte waren ihm um die Ohren geflogen, die Julian natürlich verdient hatte. Dennoch tat es weh, dass der beste Freund einen zutiefst verurteilte und sich nicht einmal bemühte, eine andere Sichtweise zu verstehen.

„Kein Wunder, dass du dich nicht mehr bei uns blicken lässt."

Julian senkte den Kopf. „Chuck hat mir freundlich zu verstehen gegeben, dass ich bei ihm nicht mehr willkommen bin."

„Gib ihnen allen Zeit", sprach Ethan in einem versöhnlichen Ton. „Sie müssen sich erst daran gewöhnen, dass du zu einem Sith mutiert bist. Dann schlagen sich bestimmt ein paar weitere auf die dunkle Seite der Macht."

Seine Anspielung auf Star Wars entlockte Julian ein scheues Lächeln. Nach einer Weile fragte er, wie es den anderen in den letzten Wochen ergangen war.

„Chuck hat eine Braut kennengelernt. Kendra fragt immer wieder nach dir, Zoe bemüht sich um einen Ausbildungsplatz und Bill versucht, die Weltherrschaft an sich zu reißen, indem er das fortführt, was du begonnen hast."

Julian horchte auf.

„Er ist auf Krawall gebürstet und will deinem Vorbild folgen", antwortete Ethan. „Er hat sich schon einen Feind, eine große Firma, ausgesucht und plant, diese nachts zu verwüsten."

Julian rieb sich das Kinn. Interessant ... „Wie geht es dir?", fragte er nach einer Weile.

Ethan blickte nach oben, als stünde die Antwort in den Wolken. „Mir geht's gut. Aber ohne dich macht Fortnite nicht mehr so viel Spaß."

Einen Moment lang schwiegen beide. Julian hatte das Gefühl, sie seien zwei Kids, die miteinander spielen wollten, aber nicht genau wussten, wie sie die erste Kontaktaufnahme gestalten sollten.

„Wie willst du weitermachen?", erkundigte sich Ethan grinsend.

Er winkte ab. „Meine radikalen Pläne haben sich geändert. Es wird Zeit für einen Imagewechsel."

Ethan wirkte erleichtert. „Also wird der Todesstern nicht beendet."

Julian grinste. „Eher nicht. Ich konzentriere mich nicht mehr auf die Riesen, sondern möchte die sozialen Firmen in den Fokus der Medien rücken."

Einen Augenblick lang überlegte Ethan. Dann breitete er die Arme aus und ging auf ihn zu, um ihn kräftig zu drücken. „Da bin ich aber verdammt froh! Ich hatte schon befürchtet, dich jede Woche im Knast besuchen zu müssen."

Julian lud Ethan ein, um ihn in seine Pläne einzuweihen. Sie ließen sich mexikanisches Essen liefern und Julian erklärte ihm, dass er sich verstärkt ehrenamtlich engagieren wollte und auf die Unterstützung der ehemaligen Mitstreiterinnen und Mitstreiter angewiesen war. Ethan begrüßte die Idee und versprach, sich in der Gruppe mal umzuhören.

Natürlich hatte Julian damit gerechnet, nicht überall offene Türen einzurennen. Sein Name hatte sich dank der Zeitungen und des Fernsehens bei vielen eingebrannt. Anfangs freuten sich die Firmengründer über seinen Vorschlag, sie beim Markenaufbau zu unterstützen, doch dann dämmerte ihnen, woher sie seinen Namen und sein Gesicht kannten, und sie lehnten die Hilfe dankend ab.

Doch Julian blieb hartnäckig. Er griff sich alle Firmen auf, die sich für Mensch, Tier und Umwelt einsetzten, und rief sie an oder suchte sie auf. Dafür nahm er regelmäßig längere Fahrten auf sich, und schließlich fand er sein erstes Projekt.


Rise of Theseus (Continuum-Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt