Lukes Blick glitt von dem gedeckten Mahl ab, hin zu dem wuchtigen Schreibtisch von Hook. Geöltes, penibel gepflegtes Holz, auf dem sie selbst in dem sich daraus aus Pergamenten und Tand verflechtenden Chaos eine gewisse Ordnung erkennen konnte. Jene Art geordnetes Chaos, in dem alles seinen Platz hatte - hätte sie es nicht durcheinandergebracht, als sie in ihrer Eile an dem Tisch hängengeblieben war. Alles in diesem Raum schien genauso zu sein: geordnet.
Ein bisschen... steif? Oder es erinnerte sie schlicht weg daran, weil es im genauen Gegenteil zu dem tatsächlich ungeordneten Durcheinander im Lager der Verlorenen stand? Dort passte kein Kissen, keine Decke und kein Becher zueinander. Selbst bei den Möbeln gab es keinen Stuhl wie den nächsten. Hier aber, hatte alles eine edle Harmonie.
'Alles hat Stil.' korrigierte sie ihre innere Stimme, die sie wie einen unerwünschten Störenfried beiseite wedelte.
Das einzige, das man als unordentlich ansehen konnte, war das Durcheinander an Karten, dass auf einem Haufen lag oder die Stapel Pergamente. Sonst schien nichts aus der Reihe zu tanzen: das Tintenfass war geschlossen, die Feder gereinigt und auf ihren Platz gelegt. Sie entdeckte einen leicht angelaufenen Kompass, einen Sextanten, Zirkel zur Bemessung der Seemeilen... Ah, sie hätte fast das Gesicht verzogen.
Sie sollte das nicht wissen. Es gehörte zu all den Dingen, die sie begraben wollte. Genauso wie die Vergangenheit, die sie hinter den Nebeln zurückgelassen hatte. Aber... ein Leben das man gelebt hatte, sickerte in die Glieder. Manchmal waren es nur Kleinigkeiten. Wie man die Nase oder das Kinn trug, wie man rannte, sich nach etwas beugte oder die Finger streckte. Die Art in der man sprach, wie man Worten ihre Form gab. Fein und sachte oder kantig und scharf.
Man konnte in den Menschen lesen, wenn man sie nur lange du genau genug beobachtete. Besaß jemand raue, von harter Arbeit gezeichnete Hände? Schwielen an besonderen Stellen? War das Haar streng zusammen - oder in kunstvolle Frisuren gebunden? Die Haut vielleicht mit Färbemittel verfärbt oder angegriffen? Die Hosen an den Knien aufgerieben?
Kleinigkeiten und Details, die Aristokraten immer von einem Fabrikarbeiter unterscheiden würden. Auch wenn sie nun schon länger auf der Straße lebte, das feine Glasschloss ihres alten Lebens zusammengefallen und nicht mehr als eine Ruine war, so stand darunter weiterhin das Grundgestein, das ihr immer irgendwo ihre Form geben würde. Auch dann noch wenn sich grüne Ranken, frische Triebe oder dorniges Gestrüpp darüberlegten, Mauern einstürzten oder Stürme darüber hinfort gezogen waren.
In ihrem Fall lag die geschwungene Signatur ihres Alten Lebens in den subtilen Anzeichen guter Erziehung. In diesem Moment griff sie nach dem Besteck. Sie kam gar nicht auf die Idee zu zögern, Messer oder Gabel anders zu halten. Es war nun bereits Jahre her, dass sie solches Besteck in den Fingern hielt. Beinahe drei um genau zu sein. In dem schmutzigen Bretterhaufen den sie später Zuhause nannten gab es solchen Luxus sicherlich nicht. Seit sie auf der Straße lebten, gab es meistens Eintopf, Suppe, Brot oder Kartoffeln. Einfaches Essen - weil es günstig war und oft verwässert und geteilt werden konnte. Mit der mickrigen Bezahlung die sie als Dockarbeiter und Jake als Knabenhure verdiente, konnten sie sich gerade so die Unterkunft und das Nötigste leisten.
Bei den Verlorenen erzählten die Wenigsten von ihrer Vergangenheit oder im Detail wie ihr Leben gewesen war, ehe Peter sie gerettet hatte. Vielleicht weil manche sich nicht mehr erinnerten, sich nicht erinnern wollten oder weil sie einem Pip diese Dinge einfach nicht erzählen wollten. Erinnerungen waren wertvoll hier, das hatte sie immerhin begriffen. Umso mehr wollte sie darauf achten, ihre Schätze zu hüten. Jeden Abend ehe sie einschlief und ehe sie erwachte, ging sie bestimmte Erinnerungen durch, sprach Namen laut auf, die sie nicht vergessen wollte. Und sie erinnerte auch Jake daran, es ihr gleich zu tun. Er jedoch war anders als sie. Er wollte vergessen und neu beginnen.
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A Neverland Tale - HOOKED (de)
Fantasy** Nur eines kann den Untergang Neverlands noch verhindern: In den finsteren Zeiten, in denen das Licht eines Sterns erlischt, muss ein neuer gefunden werden! ** Neverland - eine Welt, in der einfach alles möglich war, solange man es sich nur erträu...