Kapitel 49

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„Vater?“, raunte Ethan.

Er klopfte gerade an die Tür des Schlafzimmers, da mein Mum sagte, er wäre hier. Ich dachte zurück an ihren Ausdruck, als sie die Haustür öffnete. Ich hatte die Luft angehalten, so erledigt sah sie aus. Ein zustimmendes Gemurmel ertönte, doch statt, dass Ethan eintrat, fuhr sein Gesicht zu mir herum. Er hatte Angst vor dem, was er sogleich erblicken würde. Ich nickte ihm liebevoll zu und so drückte er die Türklinke nach unten. Oliver lag in seinem Bett, der Körper wirkte geschunden und an seinem rechten Arm war ein Zugang, der offenbar dazu genutzt wurde, Schmerzmittel in sein Blut zu pumpen. Sanft lächelte er uns beide an und so trat Ethan jetzt auf ihn zu und setzte sich neben sein Bett. Ich hingegen blieb im Türrahmen stehen. Dieser Moment war zu intim, als dass ich ihn unterbrechen wollte. Ich beobachtete noch, wie sich der Dunkelhaarige zaghaft nach der Hand seines Vaters streckte, bevor ich den beiden den Rücken zukehrte und nach unten ging. Meine Mum hantierte in der Küche und ich beschloss mich zu ihr zu setzen. Egal, was zwischen uns lag, ich musste jetzt für sie da sein. Als sie mich bemerkte, lächelte sie mir sanft zu. Es war dieses Aufgesetzte, was sie auch damals trug, wenn sie von ihrer Arbeit kam und am liebsten nur noch schlafen wollte. Sie spielte für mich noch immer die Starke.

„Willst du einen Tee, Liebes?“

Ich nickte schmallippig. Während sie den Tee zubereitete, studierte ich ihren Körper. Ihr Gesicht war eingefallen, die Haut fahl, das Haar spröde. Man müsste meinen, sie wäre die Kranke. Schließlich schob sie mir die Tasse zu und setzte sich mir gegenüber. Ich musste schmunzeln, denn die Tasse, die sie mir gegeben hatte, war meine Lieblingstasse, seit ich klein war. Zeitweilig wollte ich aus nichts anderem trinken.

„Ich weiß noch, wie du sie gewonnen hast. Wir konnten uns nur ein Los leisten und die Chance stand schlecht, dass wir etwas gewinnen. Doch du hast diese Tasse gewonnen.“

Auch wenn der Tag so weit zurücklag, konnte ich mich noch ganz genau daran erinnern. Ich war damals sechs und meine Mutter und ich waren damals die besten Freunde.

„Wie geht es dir, Mum?“

Sie wollte gerade an ihrem Tee schlurfen, da hielt sie inne und stellte die Tasse zurück auf den Tisch.

„Oliver hat nur noch wenige Tage zu leben. Eine Woche, wenn es gut kommt.“

Die Härte ihrer Antwort erschreckte mich. Als würde man auf den Tod warten.

„Und wie geht es dir damit?“, fragte ich zaghaft.

Ich bemerkte, wie sie sich anstrengte, keine einzige Träne zu verdrücken.

„Wir reden viel. Es war nett von euch, hierherzukommen.“

Noch immer hatte sie meine Frage nicht beantwortet. Ich setzte liebevoll meine Hand auf die ihre. Fast erschrocken sah sie zu mir.

„Wie geht es dir, Mum?“

Die Frau mir gegenüber sprang nun auf, drehte mir den Rücken zu. Kurz darauf hörte ich ihr Schluchzen. Es war okay. Sich verletzlich zu zeigen, gehört zu den schwersten Dingen im Leben. Nach Hilfe zu bitten. Umso wichtiger ist es, für jeden, der das sieht, dennoch nicht zu verharren, nicht tatenlos zu sein. Denn am Ende des Tages will man einen Menschen an seiner Seite, für den man nicht stark sein muss und das musste meine Mutter bereits für Oliver. Es wäre ungerecht, es ihr zu verwehren. Also stand ich auf und schlang von hinten meine Arme um sie. Erst hielt sie inne, doch dann legte sie ihre Hände auf meinen Unterarm. Das Schluchzen wurde immer lauter und mit Sicherheit wurden ihre Tränen immer mehr.

„Es ist okay, sich traurig zu fühlen. Es ist okay für eine sehr lange Zeit traurig zu sein.“

Mein Mum nickte nur, unfähig etwas von sich zu geben. Im Augenwinkel bemerkte ich Ethan, der in der Türrahmen Platz nahm. Wir fuhren etwas auseinander, mein Mum wischte sich die Tränen vom Gesicht und setzte wieder dieses altbekannte Lächeln.

„Tut mir leid euch gestört zu haben, aber Vater würde gerne einen Spaziergang mit uns allen machen.“

Ich stützte Oliver auf der einen Seite, während Ethan es auf der anderen Seite tat. Er hatte kaum noch Kraft in den Beinen. Gemeinsam hievten wir ihn die Treppen hinab und ich fragte mich wahrhaftig, wie das meine Mum bis zum heutigen Tag allein geschafft hat. Es war gut, dass wir hier waren. Unten angekommen, setzten wir ihn in seinen Rollstuhl. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, während uns Oliver dankbar zunickte. Für ihn war die Lage mit Sicherheit am schwersten. Er würde nicht nur sterben, er war auch noch auf seine letzten Tage auf die Hilfe anderer angewiesen. Keine besonders schöne Art, sich zu verabschieden.

Wir spazierten schon eine ganze Weile draußen herum. Wir hatten kein bestimmtes Ziel, wir gingen einfach weiter und weiter und sprachen kein einziges Wort. Ich liebte die Landschaft hier. Die dunklen Wälder, die großen Seenlandschaften, die wenigen Klippen. Gerade genossen wir das Geräusch der immer wiederkehrenden Brandung. Was wohl mit Oliver geschehen wird, wenn er stirbt? Ich habe mir nie Gedanken über den Tod gemacht. Verständlich, schließlich war ich erst siebzehn. Vielleicht besaßen wir eine Seele. Eine, die irgendwohin aufsteigt. Oder vielleicht ist da nichts. Diese Vorstellung war gewissermaßen trostlos.

„Kinder?“

Es war befremdlich, dass er uns so nannte, denn ich sah Oliver nie als meinen Vater. Eher ein Freund, der rein zufällig mit meiner Mutter zusammen war.

„Familie ist das Einzige, was einem am Ende bleibt. Kein Geld, keine Karriere, kein Haus oder andere Habseligkeiten, nicht mal die Gesundheit. Mir ist das leider zu spät klar geworden, doch ihr könnt es besser machen. Ich will, dass ihr nach meinem Tod füreinander da seid.“

***

Ich versuchte schon eine Weile einzuschlafen, die Decke meines Kinderzimmers starr im Blick. Ich dachte über den Tag nach, über den Tod und auch in bestimmter Weise über die Zukunft. Wir werden zurück zur Woodstone Academy gehen und meine Mutter wäre dann mit all dem ganz allein. Ein Klopfen riss mich aus meinen Bedenken und keine Minute später schob sich Ethan zur Tür hinein. Seine Lider waren eingefallen. Er sah fertig aus.

„Kann ich vielleicht hier schlafen?“

Ich wusste, wie er sich fühlte. Eingeschlossen in einem Raum mit all den negativen Gedanken. Ich nickte und so schlich der Dunkelhaarige auf die rechte Seite des Bettes und verkroch sich keine Sekunde später unter meiner Bettdecke. Eine Weile starrten wir lediglich der Wand über unseren Köpfen entgegen.

„Er wird wirklich sterben“, raunte der Eishockeyspieler schließlich.

Im faden Licht konnte ich dennoch sehen, wie sich eine Träne aus seinem Augenwinkel löste.

„Ich kann permanent nur daran denken, wozu er nicht da sein wird. Es gibt doch noch so viel, dass ich ihn fragen muss.“

Zeitweilig musterte ich ihn, bevor ich mein Köpfchen auf seine sich unregelmäßig hebende Brust legte. Vorübergehend hielt er inne, bevor er seine Arme um mich legte. Fest, als könnte auch ich ihm jeden Moment entgleiten.

„Das hier ist nicht gerecht. Das Leben ist nicht gerecht.“

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