5. Systemfehler - Eine gute Oma

122 10 23
                                    

ᗴIᑎᗴ GᑌTᗴ Oᗰᗩ

[Shay Avyers]

»Ich bin wieder Zuhause«, rief Shay, als sie die Haustür entsperrte und die Wohnung betrat. Der vertraute Geruch von Keksen schwebte ihr entgegen. Anscheinend hatte die Oma gebacken. Das war ihre liebste Beschäftigung und wie alte Damen waren, verfütterte sie die Naschereien an Shay. In den letzten drei Monaten hatte sie zusätzliches Training einbauen müssen. Andernfalls würde sich der Speck an ihren Hüften vermehren. Dass es aber auch immer die Hüften waren. Warum nicht an anderen Stellen? Andererseits sollte sie dankbar sein, überhaupt genug Essen zu besitzen. Letztendlich mussten Menschen mit Superkräften einiges an Energie durch Nahrung aufnehmen.

Aus dem Wohnzimmer flackerte Licht. Vermutlich war die Oma auf dem Sofa eingeschlafen. Seufzend brachte Shay die Einkäufe in die Küche und räumte die Lebensmittel ein. Tatsächlich stand ein Teller mit Keksen neben der Herdplatte. Es würde nicht auffallen, wenn sie sich ein, zwei stibitzte, oder? Vorsichtig öffnete sie die Tüte und nahm sich ein Gebäck. Mit Schokoladenstückchen. Das waren ihre Lieblinge.

Der Keks knackte zwischen ihren Zähnen. Plötzlich ging das Licht in der Küche an. Shay starrte in das Gesicht der Oma. »Ein kleines Mäuschen vergreift sich an meinen Keksen.«

Die junge Schurkin blinzelte und schluckte den Bissen herunter. »Ich sehe keine Beweise.«

»Und was sind das für Krümel an deinem Mund?« Die Oma, wie Shay sie nannte, war eine Frau Ende Sechszig mit vergrauten, lockigen Haaren. Auf ihrer Nase fand sich eine runde Lesebrille. Wie üblich trug sie eine Strickjacke und eine einfache Hose. Ihr Name lautete Giselle.

»Darf ich um«, Shay blickte auf die Systemuhr, »halb drei keine Kekse haben?«

»Oh doch, das darfst du.« Mahnend hob Giselle den Finger. »Aber ich möchte wissen, was meine Enkelin von den Keksen hält.«

In den drei Monaten, in denen Shay bei der Oma wohnte, hatte sie aufgegeben, sie darüber aufzuklären, dass sie nicht blutsverwandt waren. Egal, was sie sagte, Giselle beteuerte, dass sie tatsächlich ihre Enkelin war. Aber dem konnte einfach nicht der Fall sein. Ihre Mutter war kurz nach ihrer Geburt gestorben und Familie hatte sie nicht besessen, was keinesfalls unüblich war. Hingegen hatte ihr Vater nie über seine Herkunft gesprochen. Zugegeben, sie hatte auch nicht oft nachgefragt. Aber sie wusste, dass sie seit Jahren keinen Kontakt mehr zueinander besessen hatten und er es für wahrscheinlich hielt, dass seine Eltern bereits gestorben waren. Zumal ihr vollkommen gegensätzlicher Charakter gegen eine Verwandtschaft sprach. Wie sollte die Klischee-Oma von nebenan einem Jungen so viel Trauma gegeben haben, dass er der gefürchtetste Schurke der Welt wurde? Um ehrlich zu sein, glaubte Shay, dass sich Giselle ihre Verwandtschaft einredete, um mit ihrer Einsamkeit klarzukommen. Einen Ehemann besaß sie nicht und über Kindern hatte sie noch nie ein Wort verloren. Außerdem meinte sie, dass sie keinen Eroth kannte. Somit konnte sie nicht die Mutter ihres Vaters sein.

»Sie sind großartig.« Shay hob den linken Daumen.

Giselle strahlte. Die Silbermähne glaubte, dass ihre Aura aus Blümchen bestehen musste. Ihre Positivität blendete. »Das freut mich. Iss noch mehr, Schatz. Du bist so dünn, du fällst mir noch vom Fleisch.«

Sie war dünn. Natürlich war sie das. Ihr halbes Leben bestand aus Sport und Training, aber das bedeutete nicht, dass sie wenig aß oder wenig wog. Gegen Nathan mochte sie abstinken, aber auch sie besaß Muskeln. Kekse würde sie trotzdem nehmen. »Danke, Oma.«

»Morgen mache ich Pflaumenkuchen. Wenn du möchtest, kannst du deinem Freund ein Stück vorbei bringen.«

»Welchem Freund?« Shay legte den Kopf schief.

PROJEKT ÄONWo Geschichten leben. Entdecke jetzt