4. Systemfehler - Der liebe Bruder

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ᗪᗴᖇ ᒪIᗴᗷᗴ ᗷᖇᑌᗪᗴᖇ

[Nathan]

Nathan öffnete die Tür zu seiner Wohnung. Ein weißer Gang mit dunklem Parkettboden lächelte ihm entgegen. An der linken Wand hingen einige Bilder, die Nathan hauptsächlich deswegen gekauft hatte, damit seine Wohnung weniger trostlos aussah. Als dunkler Engel besaß er das Privileg in eigenen Räumlichkeiten zu wohnen. Früher hatte er auf dem Boden mit den ganzen anderen Nummern schlafen müssen. Es war Teil des Trainings, was dafür gesorgt hatte, dass Alpha harte Matratzen vorzog. Früher hatte er von diesem Luxus nur träumen können.

Er hängte seinen Hut und seinen Mantel an dem grauen Kleiderständer auf und lockerte seine Krawatte. »Ich bin Zuhause.«

Ein Quietschen ertönte und wenige Sekunden später, erschien ein Rollstuhl im Flur. Ein Mann, der Nathans perfektes Spiegelbild sein könnte. Lediglich an ihren Augen und ihrer Statur ergab sich ein Unterschied. Sein Zwilling war schwächer und besaß weniger Muskeln. Wie sollte er auch trainieren, wenn seine mangelnde Gesundheit ihn jeden Tag quälte?

»Schön, dass du wieder zuhause bist.« Sein Bruder, Rothel, breitete die Arme aus, um ihn umarmen zu können.

Vorsichtig beugte er sich zu ihm herunter und gab ihm das, wonach er verlangte. Hier war der einzige Ort, an dem er sich sicher fühlte. An dem er Glück empfand. Sein Bruder mochte es nicht geschafft haben, ein dunkler Engel zu werden, aber er liebte ihn mehr als sein eigenes Leben. Sie waren schon immer zusammen gewesen. Auf der Straße, beim Training und jetzt. Nathan wünschte sich nur, er könnte ihn öfters besuchen. Leider spannte ihn die Mission um Shay derart ein, dass sie in den letzten drei Monaten kaum Zeit miteinander verbracht hatten. Rothel besaß jedes Recht wütend zu sein, stattdessen begrüßte er ihn mit einer Umarmung. Sein Bruder war in vielerlei Hinsicht ein Vorbild.

»Tut mir leid, dass ich dich solange alleine gelassen habe.« Nathan sank auf die Knie und drückte Rothels Hand fest. »Ich bin ein schrecklicher Bruder...«

Rothel seufzte und nahm sein Gesicht in die Hand. »Du bist kein schlechter Bruder. Wir wissen beide, dass man den Befehlen des Finsterkönigs nicht widersprechen kann.«

»Trotzdem habe ich Angst. Du bist an diesen Rollstuhl gefesselt. Was, wenn dir etwas zustößt, während ich nicht hier bin? Was wenn Beta auf die Idee kommt, dich anzugreifen, um mir eins auszuwischen?«

»Denkst du wirklich, dass sie das tun würde? Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, schien sie mir eher abgeneigt. Damit meine ich, ich glaube, sie interessiert sich nicht für mich.«

»Dieser Psychopathin traue ich alles zu. Sie hat mich heute schon wieder belagert.« Nathan legte einen Kopf an der Lehne des Rollstuhls ab. Rothel fuhr sanft durch sein Haar. Die Zeit mit seinem Bruder war die Wertvollste, die er besaß. Zum ersten Mal seit Tagen fiel sämtliche Anspannung von seinen Schultern. Seine Muskeln entspannten sich und er genoss das sanfte Kraulen entlang seiner Kopfhaut.

Rothel lachte auf. »Nur, weil ich krank bin, bedeutet das nicht, dass ich schwach bin.«

Das stimmte. Zumindest irgendwie. Bevor sein Zwilling den Unfall erlitt, der ihn an den Rollstuhl fesselte, hatte er ebenfalls für die Position des Alphas kandidiert. Daraufhin war er lange krank gewesen und war auch nach all den Jahren immer noch anfällig. Deswegen wollte Nathan nicht, dass er seine Kräfte benutzte. Seine Fähigkeit anzuwenden, konnte den Körper enorm belasten. Das wusste er aus eigener Erfahrung.

»Im Notfall, aber wenn dein Gegner auf Ausdauer abzielt, wirst du den Kürzeren ziehen.« Früher war es anders gewesen. Um ehrlich zu sein, hatte Nathan immer geglaubt, Rothel würde die Position des Alphas übernehmen. In den Trainingseinheiten hatte er stets geglänzt. Selbst Epsilon, die für das Training der Nummern verantwortlich war, hatte über ihn nur in den höchsten Tönen gesprochen. Rothel war die einzige Nummer gewesen, der es regelmäßig gelungen war, ihren schlangenartigen Haaren zu entkommen. Selbstverständlich hatte Alpha dieses Niveau inzwischen erreicht, allerdings stellte sich die Frage, wie stark Rothel inzwischen wäre, wäre er nicht an den Rollstuhl gefesselt. Manchmal fühlte sich Nathan so, als hätte er seinen Bruder um diesen Ruhm beraubt. Auch wenn er nie Vorwürfe in diese Richtung getätigt hatte.

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