Von Kanarienvögeln und Schokofröschen

328 8 0
                                    

Das vertraute Rattern des Hogwarts Express hatte eine so beruhigende Wirkung auf Hermine, dass sie, ihr Buch aufgeschlagen in den Händen haltend, tief auf dem gepolsterten Sitz hinunter rutschte und einen Moment verträumt aus dem Fenster sah, um die vorbeihuschende Landschaft zu betrachten.
Sie hatte ein Abteil für sich allein ergattert, und obwohl der Zug erst vor wenigen Minuten losgefahren war, machte sich bereits ein so vertrautes, so angenehmes Gefühl in ihr breit, dass sie unwillkürlich lächeln musste.
Ja, sie war froh, das Jahr in Hogwarts zu wiederholen und ihr wurde abrupt klar, dass alles andere eine Fehlentscheidung gewesen wäre.
Und das Schönste war, dass es ein Jahr ohne Ängste werden würde.
Voldemort war besiegt, es lauerte nirgendwo ein bedrohlicher Schatten, vor dem man sich fürchten musste, und selbst bei dem Gedanken an ihre Abschlussprüfungen überkam sie nicht die übliche Panik. Mittlerweile fühlte sie sich so gefestigt, dass sie Vertrauen darauf hatte, dass sie mit ihrem Können und ihrem Fleiß einen großartigen Abschluss machen würde.
Gerade, als sie ihren Blick wieder in das Buch senkte, klopfte es flüchtig an die Scheibe der Schiebetür ihres Abteils, und als sie hochschaute, sah sie einen strahlenden Neville, der mit einem Ruck die Tür aufzog.
„Neville!“, entfuhr es ihr erfreut.
Der Angesprochene zog seinen Koffer etwas näher, und Hermine sah, dass er im Arm etwas hielt, das wie ein kleines Gewächshaus aussah.
„Hi Hermine“, sagte er fröhlich, und ehe er weiter kam, war sie aufgesprungen und umarmte ihn.
„Oh, ich freue mich, dich zu sehen!“, sagte sie ehrlich.
Es hatte sie irritiert, auf dem Bahnsteig bisher verhältnismäßig wenig bekannte Gesichter gesehen zu haben. Lediglich Hannah, Justin und Ernie aus Hufflepuff waren ihr aufgefallen sowie Terry Boot und Michael Corner aus Ravenclaw. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass so wenige die siebte Klasse wiederholen wollten. Andererseits war es unfassbar voll auf dem Bahnsteig 9 ¾ gewesen, es bestand durchaus die Möglichkeit, dass sie die anderen übersehen hatte.
„Ich freue mich auch, dich zu sehen“, sagte Neville. „Es ist rappelvoll im Zug, wäre es in Ordnung, wenn ich bei dir sitze?“
Dagegen hatte Hermine absolut nichts einzuwenden, sie mochte Neville und war irgendwie froh, Gesellschaft zu haben. Seit dem zweiten Schuljahr hatte sie mit Ron und Harry zusammen gesessen, jetzt ganz alleine zu sein, irritierte sie etwas. Sie verdrängte rasch den Gedanken an die beiden, da ihr Herz sich schmerzhaft zusammen zog, und in der nächsten Sekunde kam ihr etwas anderes in den Sinn: Ihre erste Zugfahrt nach Hogwarts hatte sie zu einem Teil mit Neville verbracht, hatte sie ihm damals doch geholfen, seine Kröte Trevor zu suchen, und nun, auf ihrer letzten Zugfahrt nach Hogwarts, gesellte er sich erneut zu ihr. Es war ein eigentlich unwichtiges Detail, was sie aber aus irgendeinem Grund trotzdem freute.
Sie half Neville, indem sie ihm das kleine Gewächshaus abnahm und vorsichtig auf den Boden unter dem Fenster stellte, während er selbst sich um das Gepäck kümmerte.
„Ich freue mich wirklich, dass du auch dabei bist“, sagte Hermine, als sie endlich beide wieder Platz genommen hatten. „Bisher habe ich gar nicht so viele Wiederholer gesehen.“
„Ich auch nicht“, bestätigte Neville. „Ich habe vorhin kurz mit Susan geredet, und Lisa habe ich flüchtig gesehen.“
„Meinst du, es haben sich viele dagegen entschieden, das Jahr zu wiederholen?“, fragte Hermine überrascht.
Neville zögerte.
„Naja, Hermine, weißt du, ich glaube, dass viele noch mit den Nachwirkungen des Krieges zu kämpfen haben... Susan deutete vorhin auch an, dass ihr der Kopf eigentlich nicht wirklich nach Schule steht.“
Hermine fühlte, wie ihre gute Laune getrübt wurde.
Ja, Neville hatte natürlich Recht.
Sie wusste, dass ein paar Schüler, so wie Ron und Harry, bereits Ausbildungsangebote bekommen hatten und lieber diese annahmen, außerdem konnte sie sich gut vorstellen, dass es auch ehemalige Mitschüler gab, die den Schrecken des Krieges verarbeiten mussten, ehe sie überhaupt daran denken konnten, wieder am normalen Leben teilzunehmen.
Eine furchtbare Vorstellung.
Die vergangene, schlimme Zeit hatte etliche Opfer gefordert, etliche junge Seelen zerstört.
Abrupt sank Hermines Laune rapide.
„Aber du bist sicher gerne wieder da“, sagte sie rasch, um vom Thema und somit auch von sich selbst abzulenken. „Und Luna freut sich sicher auch.“
Sie lächelte Neville wissend an.
Er lächelte nur flüchtig zurück und sagte dann: „Oh, Luna und ich... wir sind nicht mehr zusammen.“
Hermine starrte ihn überrascht an.
Sie wusste, dass Neville Kingsleys Angebot, zusammen mit Harry und Ron eine Ausbildung zum Auror zu beginnen, abgelehnt hatte. Sie hatte Neville bei ein paar Veranstaltungen zum Gedenken der Kriegsopfer getroffen, stets in der Begleitung von Luna, und er hatte ihr gesagt, dass er es lieber ausnutzen wollte, noch ein Jahr mit seiner Freundin zusammen zur Schule zu gehen.
Und nun waren sie getrennt?
„Neville, das-“, begann sie.
„Ja, bisher haben alle ziemlich überrascht reagiert“, unterbrach er sie. „Aber es ist alles ok zwischen Luna und mir, wir haben uns nicht gestritten oder so.“
„Ok“, sagte Hermine zögernd. „Aber... Neville... das ausgeschlagene Ausbildungsangebot...“
„Das kam mir natürlich auch in den Sinn.“ Neville nickte. „Aber weißt du, Hermine, alles passiert zu einem bestimmten Zweck, und daher denke ich, es hat schon seinen Sinn, dass ich das Schuljahr wiederhole. Und weißt du, wenn ich so richtig drüber nachdenke, wäre ein Job als Auror vermutlich nicht das Richtige für mich. Und so habe ich ein Jahr länger Zeit, mir Gedanken zu machen, was ich statt dessen machen will.“ Er machte eine kurze Pause. „Mal sehen, vielleicht beginne ich statt dessen nach dem Abschluss ein Studium.“
Kurz musste Hermine Neville eingehend betrachten.
Merlin, was war aus dem kleinen, pummeligen und stets verunsicherten Jungen für ein nachdenklicher, selbstbewusster junger Mann geworden!
„Glaubst du das wirklich?“, fragte sie.
Neville blinzelte irritiert.
„Was?“
„Naja, dass alles zu einem bestimmten Zweck passiert? Dass alles irgendwie einen Sinn hat?“
„Absolut“, kam die sofortige Antwort.
Hermine biss sich auf die Unterlippe und sah einen Moment nachdenklich aus dem Fenster, ohne die Landschaft wirklich wahrzunehmen.
„Weißt du, Ron und ich...“
Sie brach ab. Es tat zu weh.
„Ich weiß“, hörte sie Neville zu ihrer Erleichterung sagen. Er nahm ihr so die Unannehmlichkeit ab, es aussprechen zu müssen.
Sie sah ihn wieder an.
Einen Moment schwiegen sie, dann fragte Neville: „Soll ich dir die Pflanzen erklären?“
Er deutete auf sein Gewächshaus.
„Klar“, sagte Hermine.
Und Neville begann einen interessanten Monolog über die Gewächse in dem kleinen Glaskasten. Schon nach kurzer Zeit begriff Hermine: Für jeden anderen hätte es so gewirkt, als sei Neville einfach ein bisschen spleenig, was magische Pflanzen anging, aber Hermine hatte schon lange verstanden, dass viel mehr in dem unscheinbaren jungen Mann steckte, als die ganze Welt auf dem ersten Blick in ihm sah. Denn schon nach kurzer Zeit war der Gedanke an Ron in den Hintergrund gerückt, und sie war sich sicher, dass es Nevilles Intention gewesen war, sie abzulenken.
Etwas später schaute Ginny bei ihnen vorbei, ehe sie wieder zu den Mädchen aus ihrem Jahrgang verschwand.

What if... (Dramione) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt