Vom Tod und anderen Albernheiten

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Im ersten Moment, nur eine Sekunde lang, dachte Hermine, Malfoy hätte mit seiner Einschätzung richtig gelegen. Die Gestalt war hochgewachsen, schlank und in einen dunklen Umhang mit hochgeschlagener Kapuze gehüllt. Obwohl es lediglich ein Irrwicht war, umgab die Gestalt etwas so Bedrohliches, dass Hermine spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten und ihr Magen sich unwohl zusammen zog.
Aber es war eindeutig nicht Voldemort.
Das Gesicht war hinter einer Maske verborgen – einer Todessermaske.
Hermine konnte ihren Blick nicht von der Gestalt abwenden, die langsam ihre Hand hob, um die Kapuze abzustreifen. Sie hörte Malfoy erschrocken keuchen, und sie begriff, dass er schon viel mehr verstanden hatte als sie.
Die Kapuze fiel, und im nächsten Moment war sich Hermine sicher, wen sie vor sich hatte: Lucius Malfoy. Das Haar war etwas kürzer, als sie es in Erinnerung hatte, aber Haarfarbe und auch Körperhaltung sowie Gestik trafen absolut auf Malfoy Senior zu.
Doch dann hob der Todesser die Hand, in der sich ein Zauberstab befand, und mit einer merkwürdigen Mischung aus Eleganz und Aggressivität ließ er den Stab kurz vor der Maske hinabgleiten, woraufhin diese sich in dunklen Rauch auflöste.
Sie hörte aus Malfoys Richtung ein entsetztes, ersticktes Geräusch und merkte, wie auch sie selbst erschrocken nach Luft schnappte.
Das Gesicht, das zum Vorschein kam, war nicht das von Lucius Malfoy, sondern das seines Sohnes.
Einen Moment lang merkte Hermine, wie ihr Gehirn sich weigerte, das Gesehene zu verarbeiten.
Erstens war sie damit überfordert, Malfoy in Irrwicht-Gestalt zu sehen, während sie wusste, dass er sich auch real im Raum befand. Und zweitens irritierte sie das Aussehen des Irrwicht-Malfoys ungemein.
Er war ein paar Jahre älter als der echte Malfoy, das Haar etwas länger. Er ähnelte seinem Vater noch mehr als der reale Malfoy.
Und er war von grundauf furchteinflößend.
Dieser Malfoy hatte ein hartes, irgendwie fast brutales Gesicht und kalte, böse Augen.
Man sah in diesem Gesicht, dass die Person andere Menschen getötet hatte. Und vermutlich noch schlimmere Dinge getan hatte, als jemanden zu ermorden.
Es war das Gesicht eines überzeugten Todessers, der das Dunkle Mal mit Stolz trug.
Es kostete Hermine sehr viel Überwindung, ihren Blick von dieser grotesken Variante von Malfoy loszureißen und statt dessen den echten Malfoy anzusehen.
Er hatte seinen Stab halb gesenkt, seine Hand zitterte so stark, dass Hermine sich wunderte, dass er ihn nicht längst fallen gelassen hatte, und in seinem Gesicht stand blanke Panik geschrieben.
„Zauberstab hoch, Malfoy!“
Er reagierte nicht auf ihre Worte und zu Hermines Entsetzen entwich ihm sogar ein leises Schluchzen.
Und kurz erinnerte sie sich daran, wie Harry davon erzählt hatte, wie es ausgesehen hatte, als Malfoy damals in vollkommener Verzweiflung auf dem Astronomieturm gestanden hatte, weil er nicht ein noch aus wusste, nur die Wahl hatte, Mörder zu werden oder selbst zu sterben.
Er sah so verzweifelt aus, dass es ihr im Herzen weh tat.
„Zauberstab, Malfoy! Und Riddikulus!“
Keine Reaktion.
„Malfoy!“
Anscheinend war sie zu ihm durchgedrungen, denn er hob tatsächlich seinen Stab.
Doch da machte der Irrwicht einen großen, bedrohlichen Schritt in Malfoys Richtung.
Malfoy schluchzte, ließ den Arm sinken und der Zauberstab ging klappernd zu Boden. Dann stolperte er rückwärts, bis er lautstark gegen einen der Schülertische stieß und die Hände vors Gesicht schlug.
Hermine unterdrückte einen Fluch, sprang zwischen Irrwicht und Malfoy und hob ihren Stab.
Sie hatte das Gefühl, eine eiskalte Hand würde nach ihrem Herzen greifen und es zusammendrücken, als der aggressive und hasserfüllte Blick des Irrwicht-Malfoys sich auf sie richtete.
Im Bruchteil einer Sekunde hatte er seine Gestalt geändert.
Und Hermine wurde klar, wie sehr sie sich getäuscht hatte.
Ängste, wirklich angrundtief verwurzelte, tiefgreifende Ängste, die schlimmsten Albträume, die einen heimsuchten, ließen sich nicht analytisch aufschlüsseln und dann einfach eliminieren. Diese Ängste lauerten tief verborgen, wie ein Monster, das, in einer dunklen Ecke kauernd, darauf wartete, sich in einem unbedachten Moment auf sein Opfer zu stürzen.
Auch bei ihr nahm der Irrwicht nicht die Gestalt von Voldemort an.
Und natürlich war es auch nicht Minerva, die ihr mitteilte, dass sie die Prüfungen nicht geschafft hatte.
Im ersten Moment wurden ihre Knie weich und der Anblick warf sie so aus der Bahn, dass sie laut losschluchzte.
Auf dem Boden lag, blutüberströmt und eindeutig tot, Ron.
„Nein“, flüsterte sie erstickt und merkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.
Der Körper veränderte sich, das Haar wurde dunkler, im Gesicht erschien eine Brille.
Nun war es Harrys toter Körper, auf den sie blickte. Kein Blut war zu sehen, aber der Körper war steif und blass und der Hals merkwürdig verdreht.
Ehe sie reagieren konnte, wechselte das Bild wieder, zu sehen war nun ein weiblicher Körper, ebenso tot wie die Vorgänger, getrocknetes Blut klebte an der aufgeschlitzten Kehle.
Hermine konnte den Anblick der gebrochenen Augen nicht ertragen.
„Mum“, schluchzte sie, und im nächsten Moment wechselte die Gestalt erneut, und es überraschte sie nicht, dass es nun der tote Körper ihres Vaters war, auf den sie blickte.
Noch einmal schluchzte Hermine, während die Gestalt wieder zu Harry wechselte, dann erneut zu ihrer Mutter.
Und plötzlich wurde ihr klar, dass dies nicht die Realität war.
Es war ihre größte Angst.
Ihre Eltern lebten. Ihre Freunde lebten.
Der Krieg war vorbei, es bestand keine akute Gefahr mehr für die Menschen, die sie liebte.
Die Gestalt wollte sich gerade wieder verändern, dunkles Haar wurde rot, und Hermine hob ihren Zauberstab.
„Riddikulus.“
Nichts passierte.
Natürlich nicht, sie hatte kein Bild im Kopf.
Sie konzentrierte sich auf den toten Ron vor sich.
„Riddikulus!“
Ron war plötzlich quicklebendig, trug ein albernes Partyhütchen und stopfte Kuchen in sich hinein.
Der Anblick erleichterte Hermine, aber der Irrwicht war schnell.
Ron verschwand, es war wieder der tote Harry, auf den sie blickte.
„Riddikulus!“
Harry stand wieder aufrecht, er hatte seine kaputte Brille in der Hand und blickte sie auf seine typisch verschusselte Art an, als könne er sich nicht erklären, wie sie schon wieder zerbrochen war. Das Bild war so echt, dass Hermine lachen musste und ihr fast ein lautes „Oculus Reparo“ über die Lippen gekommen wäre.
Der Irrwicht wechselte die Gestalt.
„Riddikulus!“
Noch einmal erschuf sie ein albernes Bild, und dieses Mal musste sie so laut lachen, dass der Irrwicht verschreckt in der Truhe verschwand.
Rasch ließ sie mit ihrem Stab die Truhe zuknallen und versiegelte sie gut.
Einen Moment lang fühlte sie nichts als Stolz und Triumph. Sie hatte ihre größte Angst erfolgreich in Schach gehalten.
Aber dann fiel ihr abrupt, siedendheiß, ein, dass das gar nicht das Ziel gewesen war.
Sie fuhr herum.
Malfoy war neben dem Schülertisch in sich zusammen gesunken, hatte den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen und seine Finger fest in seinem Haar vergraben.
Mit wenigen, raschen Schritten war sie bei ihm und kniete sich neben ihn.
„Malfoy.“
Er reagierte nicht.
„Malfoy, der Irrwicht ist weg.“
Einen Moment lang glaubte sie, er würde wieder nicht reagieren, aber dann ließ er langsam die Hände sinken und hob den Kopf.
Seine Augen waren immer noch angstvoll weit aufgerissen.
Zögernd hob sie die Hand und legte sie vorsichtig auf seine Schulter.
„Malfoy-“, begann sie, aber es war, als hätte ihre Berührung ihn aus seiner Apathie gerissen.
Sein Kopf fuhr zu ihr herum und er starrte sie an.
In seinen Augen sah sie Angst und Panik und zu ihrer grenzenlosen Überraschung auch Wut und Zorn.
In der nächsten Sekunde hatte er ihre Hand beiseite geschlagen, sprang halb auf, stolperte los, musste sich kurz mit den Händen aufstützen, ehe er es schaffte, sich vollständig aufzuraffen, schnappte blitzschnell seinen Zauberstab, und dann stürmte er aus dem Klassenzimmer, ohne Hermine noch einmal eines Blickes zu würdigen.
Sie starrte ihm fassungslos hinterher.
Es war erschreckend, wie sehr er neben sich gestanden hatte.










What if... (Dramione) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt