Die Ruhe vor dem Sturm

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Schwer atmend, hatte sich Haruka gerade eben hinter einem Baum versteckt. Ihr Puls war in die Höhe geschossen, während ihr Bewusstsein von der Angst beherrscht wurde. „Verdammt... verdammt... verdammt...", fluchte sie immer wieder. Nur aus purem Reflex heraus, hatte sie dem Kaiser von China eine verpasst. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass man ihr das nicht ungestraft durchgehen lassen wird. Haruka musste hier weg und zwar so schnell wie möglich. Am besten jetzt sofort. Verstohlen blickte sich die Braunhaarige um. In welcher Richtung lag der Flughafen? Das spielte im Augenblick keine Rolle. Sie musste erst einmal von dem Fest wegkommen und konnte sich dann Sorgen um etwas anderes machen. Eben wollte sie los sprinten, doch da bemerkte sie die Wachen des Kaisers, die wohl nach ihr suchten. Haruka stieß einen leisen Fluch aus. Man durfte sie auf keinen Fall erwischen, sonst wäre es das mit ihr gewesen.

Sie sah auf die Uhr. Noch dreieinhalb Stunden, bis das Flugzeug nach New York abheben würde. Sobald sie in der Luft war, wäre sie in Sicherheit und konnte diesen Alptraum hier endlich vergessen. Haruka zuckte stark zusammen. Neben ihr hatte sie ein Geräusch gehört. „Bitte nicht...", wimmerte sie leise und drehte sich ganz langsam um. Es war mit großer Wahrscheinlichkeit eine Wache gewesen. Doch atmete sie erleichtert aus, da es nur eine streunende Katze war. „Hast du mich erschreckt...", stöhnte sie leise. Das flauschige Tier strich ihr einmal um die Beine und rannte dann maunzend davon. Die Luft war im Moment rein gewesen, also nutzte Haruka ihre Chance, um von einem Baum zum nächsten zu huschen. Wie ärgerlich, dass hier so viele Buden und andere Dinge im Weg standen, sonst wäre Haruka längst über alle Berge gewesen. Für einen kurzen Moment, dachte sie darüber nach, sich einfach beim Kaiser zu entschuldigen. Doch das würde ihre Tat auch nicht mehr ungeschehen machen.

„Eure Majestät?", fragte der Hauptmann. „Wollt Ihr wirklich solange warten, bis die Wachen die Frau eingefangen haben?" Qin lächelte einmal klug. „Natürlich", antwortete er. „Ich bin sehr geduldig, Hauptmann. Außerdem wird es nicht allzu lange dauern. Im Augenblick mag sie sich verstecken, doch sie hat keine Chance, zu entkommen." Sein Lächeln wurde breiter. „Und was habt Ihr mit der Frau dann vor, Hoheit?"
„Das lass mal meine Sorge sein. Still jetzt. Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, dann kannst du mir noch eine Tasse von meinem geliebten Matcha-Tee holen."
„Zu Befehl, Eure Majestät."

Haruka erstarrte, da gerade zwei Wachen an dem Baum vorbeilaufen, hinter dem sie sich gerade versteckte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie hielt den Atem an. Wenige Sekunden später, waren sie weg gewesen. Haruka atmete erleichtert aus und suchte den nächsten Anhaltspunkt, hinter dem sie sich verstecken konnte. „Da ist sie!", brüllte plötzlich ein Wachmann laut. Durch die schiere Lautstärke des Schreis, hatte sie sich umgedreht und sah zwei der Wachen auf sie zustürmen. Nun war es sie gewesen, die einen Schrei von sich gab und ohne nachzudenken losrannte. Haruka wusste nicht wohin, bloß weg von den Wachen. „Halt! Stehen bleiben, im Namen des Kaisers!", brüllte man ihr hinterher.
„Sie versteht dich nicht, du Trottel!"
„Wen nennst du hier einen Trottel?"
„Na dich!"
„Wir haben keine Zeit, um zu streiten. Fang sie lieber ein."

Haruka war durch zwei Buden hindurch geflüchtet. Sie nutzte die Menschenmenge, um darin abzutauchen. Für einen kurzen Moment war sie in Sicherheit, doch dann rempelte sie gegen eine Frau, die das Spektakel von vorhin mitbekommen hat. „Wachen! Da ist die Frau, die den Kaiser angegriffen hat!" Zwei der Männer reagierten sofort. Haruka wusste, dass die Frau sie soeben verpfiffen hatte und musste sich schnell in Sicherheit bringen. Doch es war zu spät. Die zwei Wacheinheiten hielten sie in Schach, bis der Rest auch noch dazu kam. Immer mehr Hellebarden scharrten sich um sie. Egal in welche Richtung Haruka auch fliehen wollte. Es gab keinen Ausweg mehr. Sie war umzingelt. In die Ecke gedrängt, wie ein gejagtes Tier, wurde der Kreis der spitzen Waffen immer enger, bis sie keinerlei Bewegungsfreiheit mehr hatte. „Geht weg! Fasst mich nicht an", schrie sie. Plötzlich wurde sie von zwei weiteren Wachmännern gepackt, die sie unter Gewalteinwirkung mit sich zerrten. Sie wehrte sich mit allem was sie zu bieten hatte, doch die Wachen waren dennoch stärker als sie.

„Eure Majestät, wir haben die Frau eingefangen", teilte man dem Kaiser sogleich mit. „Gut!" Er wirkte sehr zufrieden. Geduldig wartete er darauf, dass man Haruka zu ihm bringen würden. Bei Qin Shi Huang angekommen, trat man ihr in die Kniekehlen, um sie vor dem Kaiser auf die Knie zu zwingen. „Haruka! Da bist du ja wieder. Ich habe dich schon vermisst." Die Braunhaarige sah den Kaiser völlig verstört an. Und das lag nicht an seinem süffisanten Grinsen, sondern weil sie jedes Wort, das er sagte verstanden hatte. „Was schaust du denn so überrascht? Hast du wirklich geglaubt, dass ich nur chinesisch spreche?" Er lachte einmal belustigt. „Um genau zu sein, spreche ich siebzehn unterschiedliche Sprachen. Gebrochen! Und da ist deine Muttersprache auch dabei. Überraschung!" Haruka starrte ihn einfach nur an. Sie wusste gar nicht, was sie sagen sollte. „Mhm? Du siehst aus als ob du mich etwas fragen willst. Übrigens war deine Ohrfeige nicht von schlechten Eltern. Das hat mich sehr beeindruckt." Er legte geduldig seine Fingerspitzen aufeinander. „In Ordnung. Ich habe trotz deiner Zurückweisung noch immer gute Laune. Du darfst mir genau eine Frage stellen."

Endlich erwachte Haruka aus ihrer Starre. Sie blinzelte mehrmals und versuchte sich aus dem Griff der Wachen zu befreien. Erfolglos. Obwohl sie Qin etwas ganz anderes fragen wollte, kam ihr urplötzlich ein anderer Gedanke in den Sinn, den sie dummerweise laut aussprach. „Wieso trägst du ne Augenbinde?" Im ersten Moment wirkte der Kaiser überrascht, denn er hatte mit einer ganz anderen Frage gerechnet. Dann lächelte er ironisch und scheint ihr tief in die Seele zu schauen. „Das ist mein Geheimnis. Und du wirst es nie, niemals herausfinden wollen..." Haruka war der drohende Unterton in seiner Stimme nicht entgangen. Es musste ein schreckliches Geheimnis sein, wenn der Kaiser Tag und Nacht eine Augenbinde trägt. War der Kaiser wirklich blind und besaß keine Augen mehr? Oder war er dahinter so hässlich und wollte so nicht gesehen werden?

Tausend verschiedene Möglichkeiten, zog Haruka in Betracht. Was war das Geheimnis seiner Augen gewesen? Es machte sie fast wahnsinnig, es nicht zu wissen. „Und was wirst du mit mir...-" Qin Shi Huang schnitt ihr das Wort ab. „Nein, nein! Ich sagte eine Frage. Nicht zwei", meinte er und wedelte dabei drohend mit dem Finger. „Nun gut, wie auch immer. So sehr ich dich auch mag, Haruka. Dennoch kann ich dir deine Tat nicht einfach ungestraft durchgehen lassen." Plötzlich stellten sich ihr die Nackenhaare auf. Haruka wurde bleich wie ein Gespenst. Da waren sie soeben gewesen. Die Worte, vor denen sie sich so sehr fürchtete. Qin deutete nach oben und sofort wurde sie von den Wachen auf die Beine gezogen. Äußerst sanft, beinahe zärtlich, strich der Kaiser ihr über die Wange. „Ich bitte um Verzeihung, meine Schöne."

Der Schlag kam so schnell, dass Haruka ihn nicht kommen sah. Sie hatte nur den Schmerz gespürt, bevor die Welt um sie herum zu verschwimmen begann. Die grellen Farben wurden immer dunkler, bis sie schließlich von einer unendlichen Schwärze verschlungen wurden. Haruka's grüne Augen rollten nach oben. Sie schlossen sich auf unnatürliche Art und Weise, bis sie dem Kaiser schließlich bewusstlos in die Arme fällt. „Hoppla! Da habe ich es wohl ein bisschen übertrieben", lachte er. „Das geht nun aber wirklich zu weit, Majestät."
„Das bleibt aber unter uns!"
Qin räusperte sich einmal, sodass man ihm Haruka abnehmen möge. „Schluss für heute. Bringt sie in meine Sänfte und dann gehen wir nach Handan zurück."
„Jawohl", sagten die Wacheinheiten und führten sofort den Befehl ihres Herrn aus. Haruka wurde zur Sicherheit an den Hand und Fußgelenken gefesselt und dann in die Sänfte des Kaisers gebracht. Der Hauptmann bestand darauf, beim Kaiser zu bleiben. Er duldete es. „Abmarsch", sagte er und klatschte einmal in die Hände. Die Sänfte wurde von den vier starken Trägern angehoben, um ihren Kaiser sicher in seinen Palast nach Handan zurückzubringen.


Die Tränen der KaiserinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt