Wild und frei

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Qin Shi Huang starrte seinen Untergebenen vernichtend an. Er schwitzte Blut und Wasser, während er seinen abgetrennten Kopf schon am Boden liegen sah. Niemand sagte etwas, denn die bedrohliche Aura des Kaisers war überdeutlich zu spüren. „Ich habe meine Frau verloren", sprach er schließlich nach einer Weile. Der Soldat schluckte, denn er wusste, dass es seine Schuld war. „Majestät, ich...-" Qin brachte ihn mit einer Handbewegung zum schweigen. Er nahm Chen Lu auf den Schoß und hielt ihr die Ohren zu. Das was ihr Vater nun sagen würde, war nicht für ihr kindliches Gehör bestimmt. „Du hattest eine einzige Aufgabe und hast sie komplett vermasselt. Eigentlich sollte ich dich für diese Dummheit köpfen lassen. Oder ich ziehe dir die Haut vom Rücken ab und mache meiner Tochter ein schönes Handtäschchen daraus." Chen Lu legte ihre kleinen Hände auf die großen ihres Papas ab. Für sie war das ein Spiel gewesen. Trotzdem wusste die kleine Prinzessin nicht, wieso ihre Mutter auf einmal weg war. Durch die Drohung des chinesischen Kaisers, war der Wachmann komplett sprachlos gewesen. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte.

„Allerdings...", hob Qin plötzlich an und senkte seine Hände wieder. „Habe ich vielleicht eine Vermutung, wo Haruka denn sein könnte. Um das schlimmste verhindern zu können, müssen wir unbedingt vor ihr da sein. Wir steigen am nächsten Hauptbahnhof aus und fahren mit dem Taxi weiter." Chao Dan erhob seine Augenbrauen. Er konnte den Gedanken seines Herrschers nicht folgen, war aber gespannt, was er vor hatte. Nach über einer Stunde, haben sie den nächsten Hauptbahnhof erreicht, wo die bunte Truppe ausstieg. „Papa, wohin gehen wir?", fragte Chen Lu. „Weiß ich noch nicht, mein Schatz. Gehen wir ein Taxi suchen." Als sie keines fanden, ging Qin Shi Huang an den Schalter und ließ sich eine Telefonnummer des Taxiunternehmens geben. Gleich im Anschluss suchte er ein öffentliches Telefon auf, warf ein paar Münzen hinein und bestellte ein kleines Bustaxi herbei. „Wir warten." Währenddessen nörgelte Chen Lu schon wieder, dass sie Hunger hatte. Zumindest konnte sich das Kind mit einer Brezel anfreunden.

„Mal sehen... der Chef sagte eine Gruppe an Chinesen wartet am Hauptbahnhof..." Qin winkte dem gelben Wagen zu. „Das müssen sie sein. Hoffentlich sprechen die zumindest englisch..." Der Taxifahrer hielt an und ließ seine Fahrgäste einsteigen. „Hallo! Sprechen Sie deutsch oder englisch?", fragte der ältere Mann hinter dem Steuer. „Beides", antwortete Qin auf deutsch. „Oh, das kommt überraschend. Wo möchten Sie denn hin?" Der Kaiser holte aus seiner Hosentasche einen Zettel heraus und gab ihm diesen. „Bringen Sie uns bitte zu dieser Adresse." Der Taxifahrer sah sich das Schriftstück an, als er schlagartig die Augenbrauen erhob. „Sie wollen nach Iserlohn? Sir, wissen Sie eigentlich, was Sie da von mir verlangen? Das sind über zweihundert Kilometer." Qin Shi Huang zog seine Geldbörse hervor und legte dem Taxifahrer ein schönes Sümmchen auf das Armaturenbrett. „Das ist die Anzahlung. Den Rest bekommen Sie, wenn wir da sind." Er starrte auf die Geldscheine. Wie heißt es in vielen Ländern so schön: Stimmt der Preis, stimmt der Service. Da griff der Taxifahrer zu seinem Funkgerät. „Chef, ich bin für heute komplett ausgebucht. Meine Kundschaft will nach Iserlohn", sagte er bescheid und fuhr schließlich los.

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Haruka beobachtete den Juwelier, wie er mit einem speziellen Gerät den Wert ihres Eherings schätzte. „Ich muss schon sagen, ich bin beeindruckt, junge Dame. Das ist hochkarätiges Gelbgold und dazu noch ein echter Diamant. Sind Sie wirklich sicher, dass Sie ihren Ehering verkaufen wollen?"
„Ja, ich bin sicher. Immerhin brauche ich ihn nicht mehr."
„Hmm... verstehe, verstehe... ich kann Ihnen diesen Preis anbieten." Haruka machte riesengroße Augen, als der Schmuckhändler ihr tatsächlich fünftausend Euro für den Ring anbot. „Ich nehme das Angebot an", sagte sie. Das war der fünfte Juwelier, den sie besuchte und der erste, wo sie nicht über den Tisch ziehen wollte. Die anderen hatten ihr gesagt, dass sie maximal zweihundert dafür zahlen könnten. Glücklicherweise war die Braunhaarige nicht dumm und wusste, dass ihr bescheuerter Ehemann ihr niemals einen billigen Klunker an den Finger stecken würde. Haruka hatte es allen ernstes durchgezogen und ihren Ehering verkauft. Das war die letzte Fessel, von der sie sich gelöst hatte.

Nun war sie wirklich frei und konnte gehen, wohin sie wollte. Als erstes ging die Braunhaarige in ein Bekleidungsgeschäft, um sich dort neue Anziehsachen zu kaufen. Schon bald durfte sie einen Rucksack, ein Handtäschchen und neue Schuhe ihr Eigen nennen. Haruka besorgte sich eine neue Haarbürste, verschiedene Kosmetikartikel und Verpflegung. Sie ging in ein Elektrofachgeschäft, um sich ein neues Mobiltelefon zu kaufen. Nach über drei Jahren, war sie endlich wieder glücklich. Sie wollte nach Hause und war ihren tyrannischen Ehemann endlich losgeworden. Die junge Frau dachte darüber nach, dass Qin zurückkommen und nach ihr suchen könnte. Es war ohnehin schon viel zu spät gewesen, um jetzt noch zu ihrem Elternhaus zu fahren. So sehr Haruka das auch missfiel, doch sie musste zumindest für eine Nacht eine Unterkunft finden. Daher nahm sie ein paar Geldscheine zur Hand und bat einen Taxifahrer darum, sie ans andere Ende der Stadt zu bringen. Frankfurt am Main war ein großer Ort gewesen. Selbst wenn ihr bescheuerter Ehemann zurückkommen und nach ihr suchen würde, brauchte er länger als eine Nacht, um alles nach ihr absuchen zu lassen. Morgen früh würde sie dann den Zug nach Hause nehmen. Autofahren wäre Haruka deutlich lieber gewesen, nur würde ein Leihwagen in dem Fall wenig Sinn machen. „Danke", sagte sie und entlohnte ihren Chauffeur für seine Dienste.

Das Schicksal schien es diesmal gut mit ihr zu meinen, denn sie bekam bereits beim ersten Hotel ein schönes Einzelzimmer. In dem hauseigenen Restaurant, konnte sie sogar noch zu Abend essen. Haruka hatte die deutsche Küche so sehr vermisst, dass sie sich ohne lange zu überlegen ein Schnitzel mit Pommes und einen bunten Salat bestellt hatte. Dabei bestand sie darauf, dass ihr Essen aus Kalbfleisch war. Zwar musste sie beim bloßen Anblick von Schweinefleisch nicht mehr würgen, essen konnte sie es aber nach wie vor immer noch nicht. Zu tief, saß noch immer das Trauma der schmerzhaften Peitsche und der Gedanke an den gepökelten Schweinekamm. Das lang ersehnte Kalbsschnitzel schmeckte so gut, dass es der jungen Frau die Tränen in die Augen trieb. Zu lange, hatte sie auf diesen Genuss verzichten müssen. Haruka aß auf, bezahlte für alles und ging auf ihr Zimmer zurück. Dort sperrte sie sogleich die Tür ab, zog die Vorhänge zu und stellte paranoiderweise den Stuhl unter die Türklinke, sodass diese nicht mehr geöffnet werden konnte.

Die Braunhaarige ging noch unter die Dusche, bevor sie sich ins Bett warf und den Fernseher einschaltete. Kurioserweise lief gerade der Film 'Und täglich grüßt das Murmeltier', was Haruka einen Schauer über den Rücken jagte. In China hatte sie sich so ähnlich wie der Protagonist des Films gefühlt. Die ganzen Tage hatten sich so gleich angefühlt. Und auf eine bizarre Art und Weise fühlte es sich komisch an, dass Qin Shi Huang plötzlich nicht mehr da war. Eine tiefsitzende Angst hielt Haruka davon ab, richtig entspannen zu können. Tatsächlich hatte sie Angst davor, dass ihr Ehemann jede Sekunde in ihr Zimmer kommen könnte und einen Spruch brachte wie: Haruka, meine Liebe, wie schön, dass du wieder da bist. Oder aber auch: Du bist ein sehr böses Mädchen gewesen. Ich nehme an du weißt, dass ich dich dafür bestrafen muss. Haruka ging eine eisige Gänsehaut auf. Sie wechselte den Kanal und konnte ihr schmerzhaft pochendes Herz etwas beruhigen, indem sie sich dumme Cartoons ansah. Jedenfalls holte sie irgendwann die pure Erschöpfung ein, sodass sie vor dem Fernseher eingeschlafen war. Die seltsamen Flimmerkisten waren so programmiert, dass sie sich nach vier Stunden ohne Beteiligung selbstständig ausschalteten. Daher war es nur wenig verwunderlich, dass die Braunhaarige am nächsten Morgen äußerst verunsichert war.

Haruka packte ihre Sachen zusammen, um danach direkt zum Frühstück zu gehen. Sie genoss es wirklich, sich frei am Buffet bedienen zu können und nicht jeden Tag der Laune von Ning Chao ausgesetzt zu sein. Mit einem vollgepackten Teller, setzte sie sich auf einen freien Platz und begann zu essen. „Hallo, meine Liebe." Haruka blieb vor Schreck das Brötchen im Hals stecken, während sie hustete und sich dabei panisch umsah. Schnell griff sie nach ihrem Kaffee, um den viel zu großen Brocken mit Gewalt in den Magen zu befördern. „Ma'am, ist alles in Ordnung?" Sie sah den angestellten Kellner des Restaurants an. „Ja, mir geht es gut, danke. Ich habe mich nur verschluckt." Da erblickte sie ein junges Paar, dass verliebt aneinander klebte. „Wie schön, dich zu sehen, meine Liebe." Haruka stöhnte einmal frustriert. Wenn sie gegessen hatte, würde sie den nächsten Zug nach Hause nehmen. Und wenn sie erst einmal Zuhause war, sollte sie ganz dringend einen Psychiater aufsuchen. Qin Shi Huang hatte mehr in ihrer Psyche kaputt gemacht, als sie dachte. Die Braunhaarige hatte das Hotel verlassen und rief ein Taxi, welches sie zum Hauptbahnhof brachte.

Dort zog sie einen Fahrschein und wartete auf den Intercityexpress, der sie zurück zu ihrer Familie bringen sollte. Die Braunhaarige zog sich in die erste Klasse zurück und beobachtete die Landschaft, die wie eine Momentaufnahme an ihr vorbei rauschte. Nach über einer Stunde, hatte der Schnellzug schließlich Köln erreicht, wo sie in die Regionalbahn nach Schwerte umsteigen musste. Auch dort stieg die junge Frau ein letztes mal um, um endlich in ihre Heimatstadt zu kommen. Haruka schlug das Herz bis zum Hals, als sie den Zug verließ. Nun müsste sie nur noch eine halbe Stunde mit dem Bus fahren, dann könnte sie ihre Mutter und ihren Vater endlich wieder in die Arme nehmen. Wie die beiden wohl reagieren würden? Unzählige male, hatte sie versucht zu ihrer Familie Kontakt aufzubauen. Briefe über Briefe hatte sie geschrieben, die nur leider jedes mal von Qin oder einem anderen abgefangen und vernichtet wurden. Und nun stand sie so kurz vor dem Ziel. Haruka hatte nach all den Jahren endlich wieder Iserlohn erreicht. Nun konnte sie nichts mehr aufhalten. Sie verließ den Bahnhof und sah ein Taxi am Straßenrand stehen. Das wäre zwar um einiges teurer, doch es war bequemer und würde schneller gehen.

Daher entschied sie sich eine Taxifahrt zu buchen und gab der schon etwas älteren Dame die Adresse, zu der sie gebracht werden wollte. Während der Fahrt nach Hause, gingen Haruka unzählige Dinge durch den Kopf. Sie fragte sich, wie es ihrer Mutter ging, was ihr Vater machte und ob Henry noch lebte. „Sie sind sehr still", riss die Stimme der älteren Frau sie aus den Gedanken. „Wie bitte?" Haruka war über diese Aussage so perplex, dass sie die Worte der Taxifahrerin gar nicht richtig verstanden hatte. „Ich sagte, dass Sie sehr still sind."
„Ja... ich bin einfach nur froh, dass ich wieder nach Hause kann." Ihre temporäre Begleiterin schien zu spüren, dass sie etwas bedrückte. „Wollen Sie darüber reden?"
Haruka presste die Lippen fest zusammen. „Ich bin vor meinem Ehemann geflohen", sagte sie ohne groß darüber nachdenken. „Ich verstehe. Haben Sie ihn angezeigt?"
„Das dürfte etwas schwierig werden", antwortete Haruka. Wie sollte sie das bitte erklären? Etwa einfach sagen: Ja, mein Ehemann ist der Kaiser von China. Das würde man ihr gewiss nicht abkaufen und gewiss in die nächstgelegene Psychiatrie stecken. Auf der anderen Seite wäre das in ihrem Fall nicht einmal etwas schlechtes.

„Da wären wir." Haruka stieg zwei Häuser vorher aus, bezahlte die Frau für ihre Dienste und nahm ihr Gepäck an sich. „Danke", sagte sie. „Passen Sie auf sich auf", erwiderte die Taxidame noch und fuhr dann wieder davon. Haruka atmete einmal tief ein und aus, als sie das Haus ihrer Eltern erblickte. Natürlich fragte sich der ein oder andere, wieso sie nicht schon längst ausgezogen war. Die Braunhaarige sah nie einen Grund, um sich eine eigene Bleibe zu suchen. Immerhin hatte sie ihre eigene Etage, eine liebe Familie und einen großen Garten. Mehr brauchte und wollte sie nicht. Plötzlich schlug ihr das Herz bis zum Hals, als sie vor ihrer eigenen Haustür stand. Haruka betrachtete das Klingelschild, auf dem der Name Nakamura zu lesen war. Ein letztes mal atmete sie tief durch, bevor sie dann auf die Klingel drücken wollte. „Du hast lang auf dich warten lassen, meine Liebe." Haruka erstarrte. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Ihr schlanker Zeigefinger war nur ganz knapp von der Klingel entfernt gewesen. „Nein...", flüsterte sie leise. Unmöglich... das war absolut unmöglich! Ihr kaputter Verstand musste ihr einen Streich spielen. Anders konnte sie sich das nicht erklären. Langsam... ganz langsam, begann sie sich umzudrehen. Dabei hoffte sie, betete, dass sie sich geirrt hatte. Doch noch während ihrer Drehung, wurde ihre Hoffnung zunichte gemacht. Es war tatsächlich ihr Ehemann, der die Arme hinter dem Rücken verschränkt hatte und sie freundlich anlächelte. „Hast du mich vermisst, mein Schatz?" Haruka starrte ihn einfach nur an. Sie brach in kaltem Schweiß aus, zitterte wie Espenlaub und hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden.

Hinter ihm sah sie Jiang Li, Chao Dan und Zhao Fey, die Chen Lu auf dem Arm hatte. „...Wie...?" Mehr vermochte die Braunhaarige nicht zu sagen. Viel mehr musste sie auch nicht sagen, denn Qin Shi Huang konnte sich selbst zusammenreimen, was sie von ihm wissen wollte. Da zog er plötzlich etwas aus seiner Hosentasche und hielt ein kleines Kärtchen hoch. „Erkennst du ihn wieder?" Haruka starrte den kleinen Gegenstand an. Es war ihr Personalausweis. „...Gib den sofort her..." Qin lachte und steckte ihn wieder ein. „Den bekommst du wieder, wenn du ein braves Mädchen warst. Es war dumm von dir zu glauben, dass du mir wirklich entkommen könntest, meine Liebe." Haruka konnte nicht glauben, dass er ihre Sachen all die Jahre aufgehoben hatte, die ihr damals abgenommen wurden. Sie war so nahe an ihrem Ziel gewesen und doch so fern, denn sie wusste, dass ihr verhasster Ehemann sie auf der Stelle nach China zurückbringen und dort schlimm bestrafen würde. Da legte der Kaiser den Kopf schief und sah sie fragend an. „Also was ist nun? Klingelst du jetzt, oder nicht?"

Haruka sah ihn verwirrt an. Was...? Er erlaubte ihr tatsächlich, ihre Familie zu sehen? Sie dachte nicht lange darüber nach, sondern drehte sich wieder um und drückte auf die Klingel ihrer Eltern. Sie konnte die schallende Glocke im Inneren hören. Gefolgt von eiligen Schritten. „Ich komme", ertönte die glockenhelle Stimme einer Frau, die Haruka eindeutig als ihre Mutter ausmachen konnte. Ihr schnell pochendes Herz rutschte ihr in die Hose, als sich die Tür endlich öffnete. Die Braunhaarige sah, wie das Lächeln ihrer Mutter augenblicklich verschwand und sich in eine ungläubige Miene verwandelte. „Oh mein Gott...", sagte sie und ließ vor Schreck ihre Kaffeetasse fallen. „Haruka...", hauchte sie vollkommen überrascht. Da schossen der jungen Frau schon die Tränen in die Augen. „Hallo, Mama..."


Die Tränen der KaiserinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt