Verloren in der Fremde

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In aller Gemütsruhe, steckte sich Qin erneut den Löffel in den Mund, kaute ordentlich und sah Haruka dabei an. „Bist du immer noch sauer, weil ich auf deinem Schoß eingeschlafen bin?" Sie antwortete ihm nicht. Das musste sie auch nicht, denn ihr Gesichtsausdruck sagte alles. „Komm schon, du kannst doch nicht ewig sauer sein. Willst du denn gar nichts essen? Es ist echt lecker." Haruka nahm einen tiefen Atemzug. „Nein, vielen Dank! Mir ist ordentlich der Appetit vergangen. Zudem ich nicht einmal weiß, was das eigentlich sein soll."
„Das ist Zongzi, ein typisches, chinesisches Gericht. Probier doch mal, es ist wirklich nicht schlecht." Haruka sah die unverkennbare Matschepampe an. Alleine der Anblick davon, ließ sie gegen einen aufkommenden Brechreiz ankämpfen. „Das kannst du selber essen. Wer weiß, was für Viecher da drin mit eingebacken sind." Sie bemerkte, dass Qin einmal kurz mit dem Zeigefinger nach oben deutete. Eine Sekunde später, bekam sie einen leichten Schlag auf den Hinterkopf.

„Autsch! Was sollte das? Hast du sie noch alle?" Qin deutete wieder nach oben und wieder bekam sie eine übergezogen. Haruka drehte sich um und funkelte die Wache giftig an. „In deiner Welt, nennt man so etwas eine Erziehungsmaßnahme. Jedes mal wenn du mich duzt, gebe ich meinem Diener ein Zeichen und er verpasst dir eine. Und zwar solange bis du gelernt hast, wie meine Anrede richtig lautet." Haruka ging hoch wie eine Rakete, während sich ihr Gesicht purpurrot färbte. „Ich scheiß auf deine dumme Anrede! Es ist mir egal, ob du der Kaiser von China, die Königin von England oder die Zahnfee bist. Meinetwegen auch der Nikolaus! Ich lasse mich nicht von dir einsperren. Und umerziehen ebenfalls nicht", knurrte sie feindselig. Qin lächelte nur und zeigte diesmal zwei Finger nach oben. Zuerst wurde Haruka ein Schlag auf den Hinterkopf gegeben und danach wurde sie auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht.

„Iss erst einmal etwas, dann geht es dir gleich viel besser." Haruka presste die Lippen fest aufeinander. Nach ihrem kleinen Wutanfall, hatte sie viel Kraft verloren. Es stimmte, dass sie ordentlichen Hunger verspürte, doch das Zongzi sah so widerlich aus. Als ob man einem Aal die Haut abgezogen und dessen Innereien darin eingewickelt hätte. Egal wie lange Haruka das Gericht auch anstarrte. Es wurde nicht weniger ekelhaft. Qin verschränkte die Arme und sah ziemlich unzufrieden aus. „Du wagst es, meine Gastfreundschaft zu beleidigen? Du hast es nicht einmal probiert. Ich werde dich in dein Zimmer einsperren und dich zehn Tage lang hungern lassen." Haruka fiel die Kinnlade nach unten. Der Kaiser war auf einmal so verändert gewesen. Normalerweise würde sich Haruka nun einen Konter überlegen, doch irgendetwas sagte ihr, dass Qin Shi Huang das durchaus ernst meinte. Sie schluckte einmal bitter. Schließlich nahm sie doch ein Zongzi, kniff die Augen zusammen und biss hinein.

Der Geschmack war für Haruka unbeschreiblich gewesen. Er war süßlich und herzhaft zugleich. Klebrig und sämig, sowie weich und bissfest. Gerade asiatische Gerichte konnten sehr gewöhnungsbedürftig sein. Und dieses hier bildete keine Ausnahme. Nachdem sie das Zongzi gegessen hatte, war die Miene des Kaisers nicht verändert gewesen. Er saß noch immer mit verschränkten Armen da und blickte sie eisig hinter seiner Augenbinde an. „Nun, ich bin nicht wirklich beeindruckt. Anscheinend muss ich dir wirklich mal eine Lektion erteilen." Eine einfache Handbewegung des Kaisers reichte hierfür aus. „Sperrt sie für drei Tage in ihrem Zimmer ein. In dieser Zeit bekommt sie nichts zu essen", befahl er. Haruka riss die Augen weit auf, während sie von zwei Dienern auf die Beine gezogen wurde. „Das kannst du doch nicht machen! Du kannst mich nicht einfach verhungern lassen", jaulte sie, während sie zum Ausgang des Speisesaals gezerrt wurde. „Vier Tage! Vielleicht lernst du dann endlich, wie meine Anrede lautet."

Mei Ying sah Haruka besorgt hinterher. „Majestät, seid Ihr sicher, dass...-"
„Schweig! Ich habe dir nicht erlaubt zu sprechen!" Daraufhin zuckte sie einmal stark zusammen. „Ich bitte um Vergebung, Hoheit." Qin Shi Huang stieß einen Fluch aus, bevor er einmal tief durch atmete und sich wieder zu beruhigen versuchte. Haruka hatte soeben eine andere Seite von ihm kennengelernt. Er war nicht immer der ruhige und gelassene Herrscher, der alles mit Humor nahm. Der Kaiser konnte auch extrem bösartig und äußerst grausam sein. Qin setzte seine Regeln knallhart durch und das würde Haruka auch zu spüren bekommen. Sie wehrte sich mich Krallen und Zähnen, doch nichts half. Man hatte sie in ihr Zimmer zurückgebracht und abgeschlossen. „Lasst mich auf der Stelle raus", fauchte sie und hämmerte wütend gegen die Tür. „Das ist Freiheitsberaubung, ich werde euch anzeigen!" Nur leider würde ihr das in China nicht viel bringen. Qin Shi Huang war der Kaiser und sein Wort ist das Gesetz. Da erinnerte sich Haruka an die Worte, die er neulich zu ihr sagte. 'Wenn ich sage gib laut, dann bellst du. Und ich werde dich kein zweites mal mehr darum bitten.'

Nach zehn Minuten hatte die Braunhaarige aufgegeben. Sie sank erschöpft auf ihre Knie herunter. Langsam fing ihre Fassade an zu bröckeln. Tränen der Verzweiflung, der Wut und des Hasses bildeten sich in ihren Augen. Schließlich konnte sie es nicht mehr zurückhalten und brach aufgelöst in bitteren Tränen aus. „Ich will nach Hause...", schluchzte sie. Haruka war verloren in der Fremde. Das konnte doch unmöglich ihr Schicksal sein. Nein, das konnte nicht möglich sein. Bestimmt kam Qin eine oder zwei Stunden später zu ihr und sagte in seinem typischen Tonfall, dass er nur einen Scherz gemacht hatte. Doch falscher konnte Haruka gar nicht liegen. Der Kaiser hatte seine Drohung wahr gemacht. Sie bekam nur morgens und Abends eine Kanne voll ungesüßten Tee und Mittags ein Glas voll purem Wasser. Keine Kekse, keinen Kuchen – nichts!" Bloß Wasser und Tee und das über vier Tage hinweg. Der erste Tag, war am schlimmsten gewesen. Haruka hatte das Gefühl, es würde ihr den Magen zerreißen. Fast so, als wollte er sich selbst verdauen. So sehr schrie er nach Nahrung.

Der zweite Tag war nicht mehr ganz so schlimm. Die reißenden Schmerzen hatten nachgelassen und fühlten sich nur noch wie ein leichtes zwicken an. Am dritten Tag, verspürte Haruka kein Hungergefühl mehr. Doch sie war gereizt, abgeschlagen und ständig müde. Selbst als man ihr zur Unterhaltung ein Buch in englischer Sprache brachte, fand sie keine Motivation, um es zu lesen. Selbst der Kaiser hatte sie in dieser Zeit nicht einmal besucht. Doch in der Nacht des dritten Tages, kam er schließlich vorbei, um sich nach ihrem Gesundheitszustand zu erkunden. Haruka lag im Bett und schlief. Eingekuschelt wie ein hilfloses Kind. Ihre Träume sind farblos geworden. „Sie hat viel Gewicht verloren", merkte Mei Ying an. „Majestät?"
„Nein! Ein Herrscher gibt niemals nach." Qin streicht Haruka eine haselnussbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ist die angrenzende Toilette sauber?", fragte er.
„Ja, Eure Majestät."

„Gut!" Qin Shi Huang erhob sich wieder. „Bring ihr morgen früh einen Früchtetee. Ach und Mei Ying?"
„Ja, Eure Hoheit?"
„Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, wie du ihr hinter meinem Rücken etwas zu Essen bringen willst, werde ich dich hinrichten lassen. Haben wir uns verstanden?"
„Natürlich, Eure Majestät. Es wird nicht mehr vorkommen." Mei Ying hatte für Haruka Mitleid empfunden. Sie wollte ihr statt Tee eine Suppe in der Kanne bringen. Leider hatte man ihren Verrat bemerkt und den Kaiser darüber sofort in Kenntnis gesetzt. Daher musste Mei Ying auch einen ihrer Finger einbüßen. Qin Shi Huang war kein böser Mensch gewesen. Er belohnte und bestrafte gleichermaßen. Ebenso wie er weder Untreue noch Verrat duldete. „Ab mit dir", scheuchte er Mei Ying schließlich davon.

Der vierte Tag brach an. Als Haruka aufwachte, war ihre Kanne voll Tee schon da. Sie stand wie üblich auf einem Stövchen, um das Getränk darin heiß zu halten. Haruka wollte nicht aufstehen. Sie hatte Kopfschmerzen, ihr war schwindelig und fühlte sich krank. Langsam machte sich die Isolation bemerkbar. Wenn ein Mensch über einen längeren Zeitraum alleine ist, würde er anfangen unterschiedliche psychische Störungen zu entwickeln. Manche fingen an Geister zu sehen. Andere führten vor Langeweile Selbstgespräche und wieder andere versuchten sich sogar umzubringen. Haruka dachte über die dritte Option nach. Allerdings war der Kaiser nicht dumm gewesen. Er ließ alle Gegenstände aus dem Raum entfernen, mit denen sie sich selbst verletzen konnte. Der vierte Tag, schien quälend langsam zu vergehen. Inzwischen hatte Haruka völlig das Zeitgefühl verloren. Wie spät war es? Welcher Wochentag war heute? Sie wusste es nicht. In den letzten drei Tagen, hatte Haruka nichts anderes getan, als zu schlafen, im Kreis zu laufen und über ihr Leben nachzudenken. Wenn die Fluggesellschaft nicht diesen fatalen Fehler gemacht hätte, würde sie jetzt bei ihren Großeltern sitzen und sich mit Schokoladenkuchen und Erdbeereis vollstopfen.

Am fünften Tag, hatte Haruka ihren Lebenswillen verloren. Sie zog sich die Decke über den Kopf und wollte sterben. Doch heute war irgendetwas anders gewesen. Und das lag nicht nur an dem Aroma von frisch gebrühtem Kaffee, sondern auch an dem Teller voll Congee, der ebenfalls auf dem Tisch stand. Haruka sprang wie von einer Tarantel gestochen aus dem Bett, krallte sich den Löffel, und fing an völlig ausgehungert den chinesischen Reisbrei in sich zu schaufeln. „Schling nicht so, sonst bekommst du Bauchschmerzen." Haruka hielt in der Bewegung inne. Sie sah zur Seite und entdeckte dort Qin Shi Huang, der gemütlich auf einem Stuhl saß und sie beobachtete. Seltsam – wieso hatte sie ihn nicht bemerkt? Und wie lange war er schon hier gewesen? Dennoch hatte er recht. Also setzte sie sich erst einmal hin, um einen Gang runter zu schalten.

Haruka hatte den Congee komplett aufgegessen. Danach schüttete sie sich den Kaffee sogar schwarz hinein, so sehr hatte sie das bittere Gebräu vermisst. „Du bist zäher als ich dachte. Das hat mich wiederum durchaus beeindruckt." Er schlug die Beine elegant übereinander. „Ich möchte heute ein paar Besorgungen auf dem Markt machen. Würdest du mich begleiten?" Haruka stellte die nun leere Tasse auf den Tisch zurück. Sie atmete einmal tief ein und aus. „Wenn seine Majestät das wünscht. Außerdem würdest du... würdet Ihr ein Nein ohnehin nicht dulden." Qin legte den Kopf schief und lächelte breit. „Sieh an! Meine Bestrafung scheint Wirkung zu zeigen." Schließlich stand er wieder auf. „Aber so wie du im Moment aussiehst, kann ich mich unmöglich in der Öffentlichkeit blicken lassen. Mei Ying?"
„Natürlich, Eure Hoheit. Ich kümmere mich sofort darum." Die niedere Dienerin lächelte Haruka an. „Bitte folgt mir, werte Dame. Ich werde Euch in eines der Badezimmer bringen."


Die Tränen der KaiserinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt