Mein Kryptonit

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Haruka schlug total erschöpft die Augen auf. Sie blickte sich verwirrt um und erkannte, dass sie in ihrem Zimmer war. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub und schwer an. Fast so, als wäre er in Beton gegossen worden. Haruka versuchte ihre Finger zu bewegen, was ihr nur mit Mühe und Not gelang. „Werte Dame, Ihr seid endlich aufgewacht." Die junge Frau gab einen Schreckensschrei von sich. „Verzeihung, ich wollte Euch nicht erschrecken." Mei Ying kam in ihr Sichtfeld und lächelte sie erleichtert an. „Ihr habt drei Tage lang geschlafen. Ich habe mir Sorgen um Euch gemacht, werte Dame." Haruka sah die niedere Dienerin an. „Gott, was ist passiert...? Ich erinnere mich nicht..." Sie wollte sich an den Kopf fassen, schaffte es aber nicht. „Wo ist der Kaiser?", wollte Haruka wissen. „Seine Majestät befindet sich nach wie vor in seinem Schlafgemach. Sein Zustand ist Eurem nicht unähnlich", sagte Mei Ying.

„Bring mich zu ihm." Da machte die niedere Dienerin ein komisches Gesicht. „Werte Dame, seid Ihr sicher?"
„Ja, bin ich. Du musst mir helfen, ich schaffe das nicht alleine." Mei Ying verschwand kurz vor die Tür und kam mit einer Wache wieder herein. Der Soldat nahm Haruka auf den Arm und trug sie in den vierten Stock. „Lady Haruka wünscht seine kaiserliche Majestät zu sehen." Die beiden Torwächter tauschten einen Blick miteinander aus, dann gaben sie den Weg in das kaiserliche Schlafzimmer frei. „Eure Hoheit, seid Ihr wach?" Keine Antwort. Der Soldat kam näher und bemerkte, dass der Kaiser tief und fest schlief. Mei Ying schlug die Decke vorsichtig zurück, damit die Wache sie neben ihm ablegen konnte. „Ruft einfach, wenn Ihr etwas braucht, werte Dame", sagte Mei Ying und die beiden gingen wieder. Haruka drehte den Kopf zur Seite und sah ihn einfach nur an. Er selbst lag auf der Seite und rührte sich nicht. Etwas unheilvolles versuchte aus ihrem Unterbewusstsein zu kommen, aber was war es...?

Haruka musste sich enorm anstrengen, damit sie ihren Arm bewegen konnte. Stück für Stück, tastete sie sich an ihn heran, bis sie schlussendlich seine Augenbinde zu fassen bekam. Mit aller Kraft zog sie daran und schaffte es eines seiner geschlossenen Augen zu entblößen. Sie versuchte das lästige Stück Stoff weiter zu entfernen, als sich ganz plötzlich und völlig unerwartet, das unbedeckte Augenlid öffnete. „...Haruka, was machst du da...?" Die junge Frau starrte in das rubinrote Auge mit dem Sternenmuster darin. Qin Shi Huang lächelte sie glücklich an. „Deine Sterne sind wirklich wunderschön..." Ihre Sterne...? Haruka zuckte zusammen. Diese wenigen Worte, lösten einen Flashback in ihr aus. Die verdrängte Erinnerung, brach aus dem Unterbewusstsein aus. Haruka erinnerte sich wieder an alles. Der durchtrennte Qi-Fluss, diese bestialischen Schmerzen, und an ihre Worte, dass sie zugestimmt hatte ihn zu heiraten. Da stieß die Braunhaarige einen lauten, markerschütternden Schrei aus. „Haruka...", stöhnte der Kaiser. „Bitte nicht so laut..." Er hatte schreckliche Kopfschmerzen und lag noch immer hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken im Bett fest. „Wachen!" Es dauerte keine drei Sekunden, als die Tür zu seinem Schlafgemach geöffnet wurde. „Ja, Eure Hoheit?"
„Bringt Haruka in ihr Zimmer zurück. Und schickt Jiang Li zu mir. Er soll etwas gegen diese dröhnenden Kopfschmerzen unternehmen", befahl er. „Jawohl, Eure Majestät." Die Wache kam näher, um Haruka dahin zurück zu bringen, wo sie hergekommen war.

In der darauffolgenden Nacht, schälte sich Qin Shi Huang aus dem Bett heraus. Die zusätzlichen Stunden an Ruhe, haben seinem Körper gut getan. Energisch stieß er die Tür zu seinem Schlafgemach auf. „Eure Hoheit! Fühlt Ihr Euch wirklich gut genug, um das Bett zu verlassen?"
„Natürlich tue ich das, sonst wäre ich nicht aufgestanden." Sein Qi-Fluss hat sich zum größten Teil erholt, was wohl daran lag, dass es für ihn nicht das erste mal war. Mit gezielten Schritten und noch leicht an der Wand abstützend, marschierte der Kaiser die Treppe nach unten. Leise öffnete er die Tür zu Haruka's Zimmer und spitzte hinein. Sie lag im Bett und schlief. Qin kniete sich neben sie und sah ihr einfach beim schlafen zu. Er beobachtete, wie sich ihr Brustkorb unter der Decke hob und senkte. „Haruka, meine Liebe...", flüsterte er leise. „... Das ich dir für deine Zustimmung so wehtun musste, schmerzt mich sehr." Der Kaiser hob vorsichtig die Decke an, damit er sich zu ihr legen konnte. Ihrem Unterbewusstsein schien das nicht besonders gut zu gefallen, denn als Trotzreaktion, drehte sie ihm den Rücken zu. Qin lachte leise. „Sogar im Schlaf wendest du dich noch von mir ab..." Er hauchte ihr einen Kuss in den Nacken, bevor er sich hinlegte und ebenfalls nochmal versuchte einzuschlafen.

Haruka stieß einen lauten Schrei aus, während sie wild herum strampelte und den Kaiser so aus ihrem Bett getreten hatte. Ein bisschen dümmlich dreinblickend, lag er auf dem Rücken, während sie sich gegenseitig ansahen. „Was tust du denn hier?"
„Was tut Ihr hier?"
„Nein, was TUST du denn hier?" Die junge Frau zog die Decke enger an sich. „Majestät, Ihr habt mich zu Tode erschreckt. Bitte macht so etwas nie wieder..." Bildete sich Qin Shi Huang das nur ein, oder schwang diesmal weder Sarkasmus noch Boshaftigkeit in ihrer Stimme mit? Vor seiner letzten Bestrafung, hätte sie mit Aggressionen und Trotz reagiert. Aber nun wirkte sie eher wie ein wehrloses Mauerblümchen. Qin musste ihre Psyche mehr angegriffen haben als beabsichtigt. „Ich werde mich bemühen", antwortete er schließlich und stand wieder auf. „Ich werde Mei Ying zu dir schicken. Das Frühstück ist bald fertig." Die niedere Dienerin begrüßte Haruka höflich und begann damit sie einzukleiden. Ihr langes Haar wurde gekämmt und zu einem Zopf geflochten.

„Haruka, meine Liebe, was hast du denn? Du magst doch gefüllte Pfannkuchen." Die Braunhaarige sah die teigige Rolle an, in der Pflaumenmus und Zimt steckte. Sie hatte nur zweimal davon abgebissen, bevor sie den Teller von sich schob. „Kein Hunger...", sagte sie. Qin Shi Huang zog seine Augenbrauen nach oben. „Schmeckt es dir nicht? Willst du etwas anderes?" Sie schüttelte den Kopf. „Kann ich bitte gehen? Ich fühle mich nicht gut." Der Kaiser blickte sie durch seine Augenbinde durchdringend an. In ihm schlugen sämtliche Alarmglocken los. „Ich möchte, dass du hier bleibst, Haruka." Sie sagte dazu nichts, sondern nahm es einfach hin. Das bestätigte Qin's Verdacht nur umso mehr. Es war tiefsitzende Angst, die sie auf einmal so zahm werden ließ. Um dem wirklich ganz sicher zu sein, würde er noch einen letzten Test an ihr vollführen. „Haruka, meine Liebe. Ich habe später vor ein Bad zu nehmen. Würdest du mitkommen und mir Gesellschaft leisten?" Nun wollte er ihre Reaktion beobachten. Plötzlich presste die Braunhaarige ihre Lippen fest zusammen. Sie wich seinem Blick aus und nestelte nervös an ihrem Hanfu herum. Qin setzte sie weiter unter Druck. „Haruka, ich habe dir eine Frage gestellt und wünsche eine Antwort darauf." Qin sah ihr an, dass sie nicht wollte, traute sich aber nicht Nein zu sagen. „...Okay...", stimmte sie schließlich zu.

Nun war sich der Kaiser absolut sicher: Seine letzte Bestrafung hatte ein ziemlich starkes Trauma bei ihr hinterlassen. Sie hatte unfassbare Angst davor, dass er es nochmal machte. Es hatte sich nach und nach schleichend entwickelt, doch Qin Shi Huang war ihr Kryptonit geworden. „Du darfst gehen", sagte er schließlich. „Leg dich ins Bett und ruhe dich noch ein bisschen aus." Haruka stand sofort auf, um fluchtartig den Speisesaal zu verlassen. Eine Wache folgte und half ihr unaufgefordert. Der Kaiser spürte, wie ihm ein seltsames Gefühl über den Rücken kroch. „Majestät, ist alles in Ordnung?"
„Ja, mir geht es gut. Allerdings hätte ich das nicht tun dürfen. Ich liebe Haruka und dennoch habe ich ihr unfassbar wehgetan." Qin hielt plötzlich eine Hand auf. „Gib mir dein Messer, Ning Chao", forderte er den Koch dazu auf. „H...Hoheit? Was habt Ihr vor...?"
„Gib mir das verdammte Messer", drückte er sich diesmal energischer aus. Ning Chao zögerte, kam dem Befehl seines Herrschers jedoch nach. Nicht nur er schrie auf, als sich Qin Shi Huang die scharfe Klinge einmal selbst über den Unterarm zog.

„Eure Hoheit, habt Ihr den Verstand verloren?" Dickes, tiefrotes Blut sickerte aus der Wunde. Ming Ming nahm sofort eine Serviette, um diese auf die blutende Stelle zu drücken. Besonders viel brachte es leider nicht. „Eure Majestät, wieso habt Ihr das getan?"
„Als Selbstbestrafung. Nimm den Pfannkuchen weg, mir ist der Appetit vergangen." Qin Shi Huang drückte Ming Ming von sich und machte sich auf den Weg zu Jiang Li. „Spar dir deine Moralpredigt für später auf und nähe die Wunde wieder zu." Der kaiserliche Arzt, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Bei der Seele Eurer Frau Mutter, was habt Ihr jetzt wieder angestellt, Hoheit?" Jiang Li holte Nadel und Faden, sterilisierte beides in kochendem Wasser und wollte die Betäubung setzen. „Nein, mach das ohne Betäubung", befahl er. „Pardon? Majestät, dass kann ich...-"
„Jiang Li!" Er schluckte einmal und sagte nichts mehr dazu. Stattdessen setzte er sich mit seinem Kaiser hin und begann die Schnittwunde zu nähen.

Qin Shi Huang stöhnte mit jedem Nadelstich. Er biss die Zähne fest zusammen, wenn sich die spitze Nadel in sein Fleisch bohrte. „Ich verstehe Euch einfach nicht, Hoheit." Jiang Li schüttelte nur den Kopf darauf. Während der schmerzhaften Prozedur, erzählte der Kaiser, wieso er so gehandelt hatte und was sein Verdacht bezüglich Haruka war. „Verstehe", sagte er und setzte den nächsten Stich. Nachdem der kaiserliche Arzt die Wunde vernäht hatte, gab er noch eine Salbe darauf und wickelte einen Verband darum. „Nun, Eure Hoheit, Lady Haruka's Trauma ist noch frisch. Ich an Eurer Stelle würde ihr Zeit und Freiraum lassen. Und wenn das nichts bringt, würde ich eine Schocktherapie empfehlen. Ängste besiegt man am besten, indem man ihnen ausgesetzt wird. Allerdings solltet Ihr mit Eurer Heirat nicht allzu lange warten. Sollte Lady Haruka zu ihrer mentalen Stärke zurückfinden, könnte es gut sein, dass sie wieder zu randalieren beginnt."

Qin machte sich nach der Wundversorgung auf dem Weg in den dritten Stock, um nach Haruka zu sehen. Genau wie er es ihr gesagt hatte, lag sie im Bett und war wieder eingeschlafen. Ihre feuchten Augen verrieten ihm, dass sie kurz davor noch geweint hatte. Zärtlich strich der Kaiser sanft durch ihr haselnussbraunes Haar, kringelte eine Strähne davon auf seinen Finger und ließ es wieder los. „Schlaf gut und erhole dich wieder", sagte er und ging. Qin Shi Huang würde auf den Rat von Jiang Li hören und musste handeln. Aus dem Grund, ließ er seinen Berater in den Thronsaal zitieren. Er verbeugte sich einmal. „Ihr habt mich gerufen, Hoheit?" Qin sah ihn durchdringend an. „Nach monatelangem Kampf, hat Haruka endlich zugestimmt meine Kaiserin zu werden. Für diesen besonderen Anlass, werden wir nach Zentralchina reisen. Fertige Flugblätter an und teile meinem Volk mit, dass sie in einer Woche eine Kaiserin bekommen werden." Sein persönlicher Berater notierte sich alles. „Habt Ihr noch andere Wünsche, Majestät?"

„Nein, den Rest werde ich selbst erledigen. Du kannst gehen. Und sorge dafür, dass die Flugblätter möglichst viele Menschen erreichen", befahl er. „Jawohl, Eure Hoheit." Sein Berater verneigte sich noch einmal und wurde dann fortgeschickt. Qin Shi Huang stöhnte einmal leise. Die Wunde, die er sich selbst zugefügt hatte, brannte wie Öl im Feuer. Trotzdem zeigte er keine Schwäche, sondern machte sich auf dem Weg in die Nähstube. „Eure kaiserliche Majestät, was verschafft uns die Ehre, dass Ihr uns mit Eurer Anwesenheit beehrt?" Die Schneidermeisterin machte große Augen, nachdem ihr Herrscher sich mitgeteilt hatte. „Ihr wollt heiraten?! Wie wunderbar! Was kann ich für Euch tun?"
„Ich möchte, dass meine zukünftige Kaiserin ein prachtvolles und aufwendiges Hochzeitskleid bekommt."
„Natürlich, bitte kommt und sucht Euch den Stoff aus." Qin Shi Huang musste nicht lange überlegen. Er wählte einen dicken Stoff in Zinnoberrot aus. Derweil holte die Schneidermeisterin einen Zettel und einen Stift. „Wie habt Ihr Euch das Kleid vorgestellt, Hoheit?"

„Es soll eine schmale Taille haben. Eine halblange Schleppe, lange, breite Ärmel und sehr viele goldene Stickereien." Seine Wünsche wurden alle von der Meisterin notiert. „Zinnoberrot mit goldenen Stickereien...", murmelte sie und schrieb sich das auf. „Wünscht Ihr noch andere Ornamente?"
„Ja, die Säume sollen alle golden werden. Und vergiss das Futter und den Unterrock nicht."
„Keinesfalls, Majestät. Ich werde mich sofort an die Arbeit machen."
„Gut, wie lange brauchst du dafür?"
„Höchstens drei Tage, Majestät. Die Maße von Lady Haruka haben wir noch."
„Gut, dann kannst du meine Maße auch gleich nehmen."
„Sehr wohl! Was wünscht Ihr Euch für ein Gewand, mein Kaiser?"
„Überrasch mich", sagte er. „Manchmal macht Ihr mir es wirklich schwer, Hoheit..." Dennoch würde sie ihr Bestes geben. „Auf, Mädchen! Lasst alles stehen und liegen. Es wartet wichtige Arbeit auf uns." Qin war zufrieden. Nun war die Zeit alles, was noch zwischen ihm und seiner Ehe stand.


Die Tränen der KaiserinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt