Es war noch dunkel draußen und man hörte die Grillen durch das geöffnete Fenster zirpen, als Kaya das Labor betrat, in dem sie arbeitete. Sie würden heute eine Menge an Aufgaben zu ihrer neusten Forschung erwarten, denn eine Kollegin hatte vor einigen Tagen eine seltsame DNA-Spur in einer der Fellproben gefunden, die sie von einem verletzten Wolf hatten, den man zum Aufpäppeln und Untersuchen in ihre Einrichtung gebracht hatte. Das Licht flackerte leise und die Lampe gab dabei ein nervtötendes Surren von sich, das Kaya am liebsten sofort im Keim erstickt hätte. Ihre Schritte klangen unnatürlich laut auf den Fliesen nach. Aber ansonsten herrschte im Labor Totenstille. Ein Blick in den großen Käfig links von ihr verriet Kaya, dass der kleine Fuchs, den sie gestern aufgenommen hatten, wach war und jede noch so kleine Bewegung ihrerseits mit aufmerksamen Augen musterte. Das surrende Deckenlicht reflektierte sich in seinen Augen und ihr blickten zwei leuchtend grüne Flecken entgegen. Als sie zwitschernd einen Schritt auf den Käfig zuging, wich er fauchend zurück.
Der Fuchs war gestern mit einer großen Bissverletzung bei ihnen eingeliefert worden, nachdem man ihm den rechten Hinterlauf hatte amputieren müssen. Man vermutete, dass es sich um die Bissspuren eines größeren Raubtiers handelte, etwa die eines Wolfes. Neben ihren Forschungsarbeiten waren die Labore, für die Kaya arbeitete, auch dafür bekannt, dass sie immer wieder verletzte Wildtiere aufnahmen und diese versorgten, bis sie sie wieder in die Natur aussetzen konnten. Eine Wildauffangstation, wenn man es so sagen mochte. Es kamen immer wieder Füchse oder Hasen herein, die Opfer einer unerfolgreichen Jagd wurden, aber seit geraumer Zeit gab es immer wieder Hinweise auf Wolfsansiedlungen in der Nähe der Kleinstadt Oryon, in der sich auch die Labore befanden und in die Kaya erst vor kurzem gezogen war. Eigentlich wurden jegliche Wolfsrudel vor hunderten von Jahren ausgerottet, da sie immer wieder die Schafs- und Ziegenherden der Bauern in der Umgebung rissen. Ihre Forschungsinstitution hielt deshalb schon länger Aussicht auf irgendwelche Wolfssichtungen in der Nähe, um deren Population besser einschätzen zu können.
„Hier, Kleiner. Ich bringe dir etwas zum Essen.", murmelte sie und stellte ihm den bereits zuvor vorbereiteten Napf in den Käfig, bevor sie sich wieder zur Beobachtung zurückzog. Der Fuchs machte keinerlei Anstalten sich dem Napf zu nähern. Armes Würmchen. Der Kleine litt bestimmt unter Todesangst und wahnsinnigen Schmerzen, die aus dem übriggebliebenen Stumpf an seinem Bein ausstrahlten.
Es wunderte sie nicht, dass es nicht allzu lange dauerte, bevor man auf den Fluren rege Schritte und Gesprächsfetzen aufnehmen konnte. Die allermeisten ihrer Mitarbeiter und Kollegen tauchten bereits in den frühen Morgenstunden zur Arbeit auf, da die meisten ihrer Schützlinge nachtaktiv waren. Füchse, Wölfe, Eulen und Marder waren an der Tagesordnung in diesen Laboren. Außerdem hatte es Vorteile, wenn man die Arbeit früher als andere verlassen konnte und dann den gesamten Nachmittag und Abend noch für andere Dinge hatte.
Dinge, wie zum Beispiel Kartons auspacken, die noch überall in der Wohnung ihrer neuen WG standen und deren Lili, ihre beste Freundin, und sie sich noch nicht angenommen hatten. Vor einigen Wochen waren sie in ein altes Bauernhäuschen am Stadtrand gezogen, um beide näher an unseren Arbeitsplätzen zu sein. Außerdem hatten sie beide das rege Stadtleben der Großstadt sattgehabt und Kaya wollte zurück zu ihren Wurzeln, wo sie viel Zeit im Haus ihrer Großeltern verbracht hatte, als sie selbst noch klein war. Das Haus, in dem sie jetzt wohnten, war schon sehr alt, aber wurde innen erst vor kurzem von den Vorbesitzern renoviert. Es benötigte dennoch den nötigen Feinschliff, um es für Lili und sie perfekt zu machen.
„Miss Dixon!", die Tür zu ihrem Labor flog mit einem Knallen auf und der kleine Fuchs humpelte fauchend in ein Versteck in seinem Käfig. Sein Futter immer noch unberührt. Sie konnte ihn verstehen, denn als sie Dr. Adams große Gestalt auf sie zueilen sah, würde sie sich am liebsten auch so schnell wie möglich aus dem Staub machen. Dr. Adams besuchte einen selten auf der Arbeit. Eigentlich kam sie nur, wenn es unangenehme Dinge zu besprechen gab. Etwas, wie eine Kürzung des Gehalts oder eine Umsetzung in eine der weniger beliebten Labore. Bei ihrem Anblick wurde Kaya sofort flau im Magen. Gerade jetzt, so kurz nach dem Umzug, konnte sie für die weiteren Renovierungsarbeiten jeden Cent gebrauchen. Eine Kürzung ihres Gehalts könnte Schwierigkeiten bedeuten. Die Arbeit in den Laboren lastete sie bereits vollständig aus. Sie würde es nicht schaffen, nebenher noch einen Nebenjob zu führen, um die Lebenserhaltungskosten zu decken. Ihr Gehalt konnte auf keinen Fall gekürzt werden.

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KAYA
WerewolfNach einer überraschenden Beförderung ist Kaya einer heißen Spur auf den Versen, die das Potenzial hat, ihre gesamte Weltsicht einzureißen. Fang glaubt an die Prophezeiung, die ihm Hilfe für sein Rudel verspricht und verlässt das erste Mal den sich...