Es war bereits wieder dunkel, als Kaya ihr neues Labor betrat und kaum hatte sie einen Schritt in den Raum gewagt, durchdrang ihn ein tiefes Knurren. Sie atmete tief durch, schaltete das Licht an und machte sich bereit, gleich einen Blick auf den verletzten Wolf im Käfig zu werfen. Große Bisswunde im Nacken. Das hatte Dr. Adams ihr am Vortag gesagt und auf den Bildern, die sich unter dem Stapel an Papier befanden, den sie ihr überreicht hatte, hatte sie sich bereits gestern Abend vorm Schlafengehen noch schnell ein Bild von dem Ausmaß der Verletzung machen können. Die Wunde sah nicht gerade klein aus und es war äußerst wichtig, dass sie sich nicht entzündete, denn das würde nicht sehr gut für den Wolf ausgehen.
Sie hatte vieles erwartet, aber nicht, dass keinerlei Wunde am Hals des Wolfes zu entdecken war, als sie schließlich einen Blick auf den großen Körper des Raubtiers erhaschte. Blickdichtes graubraunes Fell, eine kleine Lücke am Nacken, an der Stelle, an der eigentlich die Wunde hätte sein sollen. Stattdessen blickte sie auf makellose rosa Haut. Nur das fehlende Fell schloss auf einen Kampf zurück, in dem ihm ein Büschel dessen ausgerissen worden sein muss.
„Hallo.", murmelte Kaya verwirrt und machte einen Schritt auf die Glasscheibe zu, die sie von dem Tier trennte, um einen genaueren Blick auf den Wolf vor ihr werfen zu können. Er wich kein bisschen zurück, sondern ging sofort in Angriffsstellung und fletschte mit den Zähnen. Auch bei genauerem Hinsehen konnte sie keine Wunde entdecken. Dr. Adams musste sich vertan haben. Es musste noch einen anderen Wolf geben. Aber egal wie sehr sie sich bemühte, es waren nur sie zwei in diesem Labor. Kaya und der Wolf vor ihr. Kein dritter, verletzter Wolf mit klaffender Nackenwunde, wie sie erwartet hatte. Es musste ein Fehler vorliegen, anders ließ sich die unversehrte Haut des Wolfes nicht erklären.
Sie starrte den Wolf an, als könnte sie die Lösung des Mysteriums in seinen Augen ablesen und er starrte zurück, als würde er sie dazu herausfordern wollen, es zu versuchen. Seine Haltung war unmissverständlich angriffslustig und ihrer Erfahrungen nach sah er gesund genug aus, als, dass er seine Drohungen ohne Mühe in die Realität umsetzen konnte. Das vor ihr war kein ängstlicher, verletzter Wolfsrüde. Es war ein gesunder (geheilter?) junger Rüde, der nur so vor Kraft strotzte und für den es keinen einzigen Grund für einen Aufenthalt in ihrer Station gab.
Dr. Adams berufliche Nummer war schnell gewählt und Kaya stellte ihre Tasche mit den Materialien darin ab, um das Telefon besser halten zu können und sich für das Telefonat etwas zurückzuziehen. Der Blick des Wolfes machte sie auf eine seltsame Art und Weise nervös, die sie selbst noch nicht ganz verstand. Aber sie würde einen Teufel tun und diese Worte laut aussprechen. Es war nur ein Tier. Mehr nicht. Das Telefon klingelte ganze vier Mal, bevor Dr. Adams abhob:
„Miss Dixon! Schön sie zu hören! Haben Sie sich den Wolf schon angesehen? Die Wunde musste gestern unter Betäubung genäht werden, aber der Doktor hat eine großartige Arbeit mit der Naht geleistet, nicht wahr?"
Die Haut des Wolfs zeigte keinerlei Naht auf.
„Dr. Adams, deshalb rufe ich an.", Kaya tigerte nervös einige Schritte auf und ab, „Es muss eine Verwechslung vorliegen. Ich habe den Wolf begutachtet, aber da ist keine Naht und auch keine anderen Hinweise auf eine Wunde. Die Haut sieht unversehrt aus, bis auf ein Büschel fehlendes Fell."
„Das kann nicht sein, Miss Dixon.", Dr. Adams schnalzte jetzt genervt mit der Zunge und Kaya sah sie vor ihrem inneren Auge, wie sie den Kopf schüttelte und mit den Augen rollte, ganz ihr übliches Selbst, „Ich habe den Wolf gestern höchstpersönlich überprüft."
„Ich...", sie wagte einen Blick zurück in den Käfig, aber der Wolf war nicht mehr zu sehen, er musste sich versteckt haben, „Da ist nichts, Dr. Adams. Er sieht gesund aus. Vielleicht könnten Sie kurz vorbeischauen, wenn es Ihnen nicht zu große Mühe bereitet. Das wäre sehr hilfreich."

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KAYA
Manusia SerigalaNach einer überraschenden Beförderung ist Kaya einer heißen Spur auf den Versen, die das Potenzial hat, ihre gesamte Weltsicht einzureißen. Fang glaubt an die Prophezeiung, die ihm Hilfe für sein Rudel verspricht und verlässt das erste Mal den sich...