Kapitel 6 - Kaya

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Der verschwundene Wolf blieb in den nächsten Tagen ein Rätsel, das keiner zu lösen wusste. Dr. Adams hatte es bei ihrem Zuständigkeitsbereich belassen, hatte aber auch erwähnt, dass sie ihr jemand Neuen an die Seite stellen und die Forschungsarbeit im Bezug auf die Wölfe in ihrer Gegend vertiefen wollte. Sie meinte, dass die Forschung an den neuesten Ereignissen ihre oberste Priorität haben sollte. Und dabei hatte sie auch auf die DNA-Ergebnisse der ersten Tage verwiesen und stirnrunzelnd gemurmelt, dass hier etwas Größeres im Gange war.

Kaya stimmte ihr zu. Mittlerweile war sie sich auch sicher, dass hier etwas Größeres am Werk war, als ihnen je bewusst sein würde. Als sie Lili davon erzählt hatte, hatte diese herzlich gelacht und ihr versprochen, später am Tag gemeinsam ein wenig am Waldrand spazieren zu gehen, um nach irgendwelchen Spuren Aussicht zu halten. Irgendwohin musste der Wolf ja verschwunden sein.

Die Luft war eiskalt, als sie bei Dämmerung mit dem Bus in Richtung Waldstück unterwegs waren. Kayas dicke Daunenjacke half gegen den erbarmungslosen Wind, aber sie war sich nicht sicher, ob sie heute etwas finden würden, wenn alles was sie jetzt schon wollte, ihr warmes Haus und eine Tasse heißer Schokolade war. Lili sah das wohl genauso, denn ihr kleiner Körper verschwand fast vollkommen in dem übergroßen Schal und der weihnachtlichen Mütze, die sie sich übergeworfen hatte. Von der Seite sah Kaya nur ihre spitze Nase aus dem Stoff herausblitzen, die sich von der Kälte bereits rot gefärbt hatte.

„Und ihr habt wirklich alles abgesucht und nichts mehr gefunden?", fragte Lili und ihre Zähne klapperten wild gegeneinander.

„Garnichts.", murmelte Kaya und ihr Blick galt ganz allein dem Waldrand, aber es regte sich, wie zu erwarten war, nichts.

Die Sonne war bereits am Untergehen und die Farben des Waldes verliefen in ein seltsames Gemisch aus Braun und Schwarz. Es war totenstill. Bis auf das Leise Gurren einer verirrten Taube und die schweren Schritte von Lili und Kaya konnte man keinen einzigen Laut vernehmen. Wenn der Wind durch das Blätterdach rauschte, ließ sich ein kleines Rascheln vernehmen. Das war es. Außer Lili und ihr war hier eine ganze Weile niemand unterwegs. Und trotzdem fühlte sie sich beobachtet. Aber das behielt sie für sich, weil sie Lili nicht beunruhigen mochte. Es reichte, wenn die Paranoia von ihr Besitz ergriff und dafür sorgte, dass ihr Herz schneller schlug.

Kayas Blick wanderte hektisch in Richtung des Waldes, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm und Lili schien sich von ihrer plötzlichen Bewegung so erschrocken zu haben, dass ihr Blick ebenfalls in den Wald hinein schnellte.

„Hast du das auch gesehen?" Kayas Stimme war ungewöhnlich ruhig und tonlos.

„Ja."

Sie blieben stehen. Mittlerweile war es so Dunkel, dass man nichts mehr erkennen konnte, außer die Baumwipfel gegen den rotgefärbten Abendhimmel. Was auch immer sich da drin versteckte, sie würden es nicht sehen können und sie hoffte inständig, dass es sich nur um ein verirrtes Reh oder eine aufgescheuchte Vogelschar handelte. Aber sie hatten sich nicht versehen, denn keine zwei Sekunden später wurde das Rascheln lauter und die unteren Büsche und Zweige teilten sich unter dem Gewicht von Schritten. Kaya sah panisch zu Lili und zog sie einen Schritt zur Seite, aber es war nur eine junge Frau in ihrem Alter, die sich ein braunes Blatt aus den rostroten Haaren schüttelte und dann erschrocken vor ihnen stehenblieb. Sie wirkte beinahe, als hätten sie sie bei etwas ertappt.

„Oh.", entfuhr es ihr.

Die ganze Anspannung fiel auf einmal von Kayas Schultern und auch Lili entspannte sich bei dem Anblick der jungen Frau sofort. Ihrer besten Freundin entfuhr ein peinlich berührtes Lachen, dass sie versuchte in ihrem Schal zu ersticken.

„Tut mir leid." Das Mädchen sah von Lili zu Kaya und zurück.

„Ich wollte euch nicht erschrecken."

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