Kapitel 26

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Es war schrecklich. Der Gestank, die vielen Leute, dieser Luftdruck. Flüge waren nicht mein Ding. Auch noch einen Platz neben Bill ergattert zu haben, machte die Sache nicht viel lebensfroher. Im Gegenteil. Ich wartete darauf, dass er einschlief, während er wahrscheinlich nichts anderes tat, aber niemand opferte sich. Es waren 7 Stunden vergangen und aus dem Fenster gucken war noch weniger aufregend, denn da sah man nur ein langweiliges Schwarz. Und durch dieses Schwarz spiegelte das Fenster nur und ich konnte Bill direkt sehen. Ja, er tat mir leid. Bla, Bla und Bla. Aber ich musste mir treu bleiben, immerhin war die Aktion vom Vorabend kein so tolles Vergnügen. Ich musste nunmal auch an mich denken, so egoistisch es auch sein mochte.

"Du hast da was auf deiner Hose.", kam es plötzlich von ihm. Ich drehte mich langsam zu ihm um und er nickte in die Richtung, zu der er sich bezogen hatte. Ich folgte seinem Blick und sah einen Fleck auf meiner Hose. So Weiß auf Schwarz. Was für ein Kontrast. Ich seufzte genervt und kratzte daran rum. Ich hätte erst Zähne putzen und mich dann umziehen sollen. Jetzt hatte ich den Käse.

Aber das war's auch an Gespräch. Mehr als auf den Zahnpastafleck machte er mich auf nichts aufmerksam. Es ging nicht um den Kuss, nicht um Jess, die ja plötzlich nicht mehr da war und auch nicht um Tom. Aber ein scheiß Zahnpastafleck? Nein, wirklich. Das war arm.

Irgendwann um Mitternacht kamen wir dann tatsächlich an und setzten uns sofort in das Taxi. Ich stiehlte das Glück mich neben den Fahrer zu setzen und diesmal Jou neben dem Mistkerl sitzen zu lassen. Irgendwie tat sie mir leid, aber ich wollte mir einfach nicht noch eine Stunde antun. Außerdem bekam sie von Alledem wahrscheinlich weniger als die Hälfte mit. Die Fahrt war trotzdem schon etwas inhaltsumfassender als der Flug. Bills Mutter rief ihn an.

"Mama?" Er schluckte. Nicht nur, dass ihm ein langes Gespräch bevorstand, sondern dass er seine Mutter seit gefühlten Monaten nicht mehr an der Leitung hatte. Normalerweise war es Tom, der diese Telefonate erledigte. Jetzt nicht mehr. Und irgendwie war das auch gar nicht so bemitleidend.

"Bill, mein Schatz, wo ist Tom? Warum geht er nicht an sein Handy? Was ist mit der Presse los, habt ihr euch schon wieder einen Spaß erlaubt?" Sie lachte. So herzhaft und sie streichelte ihn mit sanft ausgesprochenen Worten. "Wahrscheinlich hatten die Medien genug von dir, jetzt stürzen sie sich auf Tom." Wieder kicherte sie. Ohweh.

Bill sagte nichts. Er hielt bloß das Telefon am Ohr und starrte runter. Er wollte sie nicht anlügen.

"Bill?", kam es aus der Leitung. Es klang so verrauscht, wie ein altes Band. Und doch hatte sie noch eine solch junge Stimme.

"Bill, Schatz. Wo ist dein Bruder?"

Die Räder glitten über die Straße, Jou schlief. Es war zu Zerbrechen drohend still. Er legte seine Finger auf die Stirn, sein platinblondes Haar rutschte wieder langsam vor sein hängendes Gesicht. Er rührte sich nicht. Ich konnte mich nicht umdrehen, ich wollte es sehen.

Jetzt keuchte er und da krachte meine Brust. Ein einzelner glänzender Tropfen berührte seine verdreckten Schuhe und seine Nase war voll. Er nahm Luft und atmete stolpernd wieder aus.

"Was ist los?" Gott, tat sie mir leid. Oh Gott, tat sie mir leid.

"Mama.", seine Stimme kaputt verstopft und nasal, und jetzt musste ich mich wegdrehen.

Oh fuck.

Ich presste meine Kiefer aneinander und legte meine Hand vor den Mund. Trotzdem hörte ich zu.

"Mama, er ist abgehauen.", krächzte er. Wieder atmete er holpernd ein und wieder aus. Einen Moment lang war es still und ich schloss meine Augen.

"Es tut mir so leid, Mama. Ich bin ein Dreckskerl.", wimmerte er. Zum Teufel, seit Jahren hatte ich ihn das letzte Mal so erlebt. Seit ungelogenen Jahren.

"Moment. Deine Bettgeschichten waren wahr?", fragte sie. Ihr Ton wurde nur kühler und fester, aber von Trauer war nichts abzulesen. Ich schluckte. Niemand würde jetzt in seiner Haut stecken wollen. Rein gar keiner.

Bills zögernde Stille war ihr genug. Das Telefon piepte bloß und dann war dort nichts, außer seinen hysterischen Schnapsatmungen. Ich hielt die Augen zu.

Zu Hause bei den Zwillingen angekommen, stellte sich heraus, dass der Gesuchte nicht da war. Wäre auch total dämlich. Man haut doch nicht nach Hause ab. Trotzdem unternahmen wir erst einmal nichts. Jou konnte in Toms Zimmer nicht beruhigt Schlafen und so musste sie mit mir in ein Gästezimmer. Sie legte sich freiwillig auf den Boden. Gruselig war es schon, dass ich sie auf ihr Verhalten nicht ansprach und ihr Hilfe anbot. Aber zu dem Moment war alles gruselig, also war mir da defenitiv nichts vorzuwerfen.

Einige Tage vergingen und es rührte sich keiner gegenseitig an, geschweige denn redete miteinander. Es war wie im Knast. Obwohl ich noch nie in einem war, war die Situation eindeutig damit vergleichen zu können. Denn mehr als Essen und Schlafen stand nicht in unserem Tagesplan. Immer wieder überlegte ich, was mit meinem Job wohl sei. Ich müsste mir wohl neue Chaosköpfe oder eine neue Arbeit suchen. Neue Arbeit erschien mir sinnvoller, aber das war so unwichtig, dass ich es von einer leeren Minute zur anderen leeren Minute schob. Wahrscheinlich war Uhrenlauschen mein neues Hobby. Zusammengefasst war die Zeit im Haus unverschwiegen depressiv. Irgendwie warteten wir auf Tom, dabei wusste jeder einzelne von uns, dass dieser von alleine nicht auftauchen würde. Jeder normale Mensch würde die Polizei verständigen, oder wenigstens alleine losziehen. Allerdings waren wir alles andere als normal. Also widmete ich mich wieder meinem Zimmer und meiner aller besten Freundin, der Uhr. Ich glaubte noch zukünftig viel Zeit mit ihr verbringen zu dürfen. Denn das mit dem "Etwas unternehmen" würde noch auf sich warten lassen.

Nein, mal ehrlich. Angefangen hat es doch mit Bill. Und ausgelöst hat es doch quasi unser gemeinsames und ach-so-lustiges Spielchen.

Für Nächstenliebe sind wir doch echt zu cool, nicht?

Fick ihn doch!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt