1 Die Tigerkatze

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In einer ländlichen Gegend sass eine magere Tigerkatze auf einer mit Efeu bewachsenen Steinmauer. Ihr Fell war struppig und abgestumpft. Ihre bernsteinfarbenen Augen starten mit weit geöffneten Pupillen auf die Strasse. Ein Zucken ihrer Ohren liess vermuten, dass sie ein Geräusch wahrgenommen hatte. Ansonsten blieb sie reglos sitzen. Hätte sie den Kopf gedreht, hätte die Katze gesehen, wie ein Auto quietschend anhielt und zwei Gestalten ausstiegen. Ihre Schritte wurden lauter und kamen in ihre Richtung die Kopfsteinpflasterstrasse hinauf.Eine glimmende Laterne hob das Tier aus der Umgebung hervor und ein Schatten zeichnete die Silhouette auf den Boden. Das Klackern von Absatzschuhen erklang in der sonst stillen Gasse. Die Katze drehte den Kopf und starrte die Gestalten an. Ein kleines Mädchen starrte zurück. Einen Moment hielten sie den Blickkontakt reglos, dann unterbrach ihn die Katze mit einem Fauchen und verschwand blitzschnell im Dunklen hinter der Steinmauer. Das Mädchen sah die Mauer hoch, die schweigend über ihren Kopf ragte. Energisch fasste eine Hand nach ihrem Arm, die zu einer grossen Frau in einem langen Pelzmantel gehörte. Die Pelzmantelfrau setzte den Weg in weiten Schritten fort und zog das Mädchen mit sich. Das Klick klack erfüllte die Stille und die Atemwölkchen zierten die Luft. Stolpernd versuchte das Kind Schritt zu halten, während es ein kleines rotes Köfferchen trug. Sein Herz schlug laut und schnell, als sie endlich die Strasse emporgestiegen waren und an ihrem Ende vor einem Eisernen Tor stehen blieben. An den Metallstäben, die oben zu Speerspitzen geformt waren, hing ein Holzschild mit einem Schriftzug, welchen das Mädchen nicht lesen konnte. Die Pelzmantelfrau strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und drückte die Klinke des Tores nach unten. Es schwang quietschend auf und gab den Kiesweg zu einem grossen Haus frei. Sie gingen durch die Allee bis zu dem steinernen Gebäude.Die Frau liess den Arm des Kindes los und stiess sie vor sich die Stufen hoch. Das Mädchen streckte die Hand nach der Klingel aus. Ein Ton schrillte und sie zuckte zusammen. Von drinnen erklangen Schritte und die Türe öffnete sich einen Spalt breit. Licht fiel auf das Gesicht des Mädchens und liess ihre roten Locken glänzen. Schnell senkte es den Blick zu Boden. Ihre Hand umklammerte das Köfferchen fester, dann hob sie zögernd den Kopf. Ihre grünen Augen sahen der grauhaarigen Frau ins Gesicht. Diese blickte das Kind mit gerunzelter Stirn an und fragte die Pelzmantelfrau in einem unfreundlichen Ton, ob das Kind wirklich hierhergehörte. Die roten Haare und die grünen Augen hatte man in alten Zeiten, als die Hexen noch gejagt worden waren, als ein eindeutiges Zeichen für deren Art gesehen. Sie trauerte diesen Geschichten nach, als ihres gleichen, die Menschen ohne Magie noch die Macht über die Welt in ihren Händen gehalten hatten. Jetzt waren sie die Unterschicht und der Abschaum der Gesellschaft. Die Alte verabscheute die Welt, aber besonders die Hexen, wie sie die anderen nannte. In ihren Augen waren diese Geschöpfe keine Menschen, sondern hatten die Menschheit unterjocht und dienten dem Teufel. Selbst wenn dieses Mädchen keine Gabe besass, so hatte es sicher deren Blut in sich. Denn die Frau, welche das Kind gebracht hatte, war eine Hexe, das wusste die Alte. Es kam hin und wieder vor, dass sie ein Kind in dieses Waisenhaus brachte. Diese Zöglinge hatten allesamt Hexeneltern und die grauhaarige Frau hasste diese am allermeisten. Aber leider hielt nicht sie die Macht in den Händen, darüber zu entscheiden, welche Kinder hierherkamen. Sie war nur hier, weil sie sich mit der Aufsicht der Waisen ihr Brot verdiente und es für sie keine bessere Bleibe mehr gab. Sie öffnete trotz ihres Widerwillens die Tür ganz und musterte das Mädchen mit eisigen Augen. Das Kind hatte der Türöffnerin einen Namen gegeben. Ihre Haare, ihre Miene, ihr Geruch und ihre Erinnerungen waren grau. Sie wusste sofort, dass die graue Frau sie nicht mochte und sich das nie ändern würde. Kleine Schweissperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Sie wollte nicht hierbleiben, sie wusste aber, dass sie keine andere Wahl hatte. Die Welt hatte sie alleingelassen. Obwohl ihr Grossvater sie hierhergeschickt hatte und sie lieber bei ihm geblieben wäre, wusste sie, sie würde sich an seine Worte halten. Sie würde ihr Geheimnis tief in sich vergraben und wie die anderen Kinder hier sein. Aber sie schwor sich, obwohl sie klein war, dass sie sich eines Tages nicht mehr verstecken würde.Eine Hand berührte ihre Schulter und das Mädchen drehte den Kopf. Die Pelzmantelfrau verabschiedete sich mit einem kurzen lächeln und liess das Kind mit der grauen Frau zurück. »Ich bin Runa«, sagte das kleine Mädchen und schüttelte die kalte Hand der grauen Frau. Etwas Weiches berührte das Bein von Runa. Die Tigerkatze war ihr gefolgt, strich um sie und verschwand wieder in der Dunkelheit. Die graue Frau winkte sie hinein. In der Eingangshalle stand ein Junge, der ein wenig grösser war als Runa selbst. Er lächelte schüchtern. Schroff forderte die Frau ihn auf, dem Mädchen das Haus und das gemeinsame Zimmer zu zeigen. Der Junge nickte und flüsterte zu Runa: »Komm«. Eilig stieg er die Treppe hinauf, welche unter seinen Füssen knarrte. Runa folgte ihm. »Ich bin Phileas, aber alle nennen mich Phil«, sagte er, als sie auf dem Treppenabsatz angelangt waren. Sie gingen an geschlossenen Türen vorbei, aus denen man Kinderstimmen reden hörte. Die übrigen Kinder waren schon in ihren Zimmern, erklärte er. Am nächsten Morgen würde er Runa den anderen vorstellen. »Von wo kommst du her?« fragte Phil sie.»Ich habe bei meinem Grossvater in einem Bergtal gewohnt, ich bin ein paar Stunden hierhergefahren.«»Warum konntest du nicht bei deinem Grossvater bleiben?«Runa senkte den Kopf, Tränen glitzerten in ihren Augen. Sie wusste, dass sie nicht zu viel sagen durfte, warum sie von Grossvater hatte weggehen müssen. Er war nicht ihr richtiger Grossvater, aber so hatte sie ihn immer genannt. Sie hatte ihm versprochen, nichts zu erzählen. Es wäre gefährlich, hatte er gesagt. Niemand darf dich finden, hörte sie die Stimme in ihrer Erinnerung. Runa zuckte mit den Schultern und schwieg. Phil sah sie mit schiefliegendem Kopf an und hörte auf Fragen zu stellen, als er sah, wie traurig sie war. »Tut mir leid«, flüsterte Phil. Stattdessen erzählte er von seiner Mutter, an die er sich unscharf erinnerte.»Sie hat mir und meiner Schwester immer ein Lied gesungen zum Einschlafen. Wenn ich nicht schlafen kann, summe ich es vor mich hin. Manchmal kommt mein Onkel mich besuchen. In den Ferien gehe ich zu ihm, aber er arbeitet viel und ist immer in anderen Ländern, darum bin ich meistens hier. Wenn er mich abholt, gehen wir immer Schiff fahren. Warst du schon einmal auf einem Schiff?« Seine Augen leuchteten. Runa schüttelte den Kopf. Phil zeigte ihr das Zimmer, indem sie beide schliefen. Die zwei Betten standen an gegenüberliegenden Wänden. Ein Teppich bedeckte den Boden und ein Schrank befand sich in einer Ecke, neben einem kleinen Regal. Vor dem Fenster stand ein länglicher Holztisch. »Es ist das einzige freie Bett, darum sind wir im gleichen Zimmer, obwohl du ein Mädchen bist.«Jemand klopfte und öffnete kurz darauf die Zimmertür. Eine junge Frau kam zu ihnen hinein. Runa beobachtete sie aus ihren grossen Augen. »Ich bin Nuria. Findest du dich gut zurecht?«Runa nickte. »Ihr teilt euch dieses Zimmer nur für eine Weile, bis ein anderes frei wird. Das macht dir hoffentlich nichts. Bei euch spielt es ja noch keine Rolle, bei den älteren Kindern sind wir da strenger, was die Zimmereinteilung angeht.« »Nein, es macht mir nichts aus«, antwortete Runa. Phil schien nett zu sein und sie war froh, nicht alleine in einem Zimmer schlafen zu müssen.Die Frau lächelte zufrieden und strich ihr über die Haare. Sie wandte sich Phil zu.»Zeigst du ihr noch kurz den Rest des Hauses? Danach kommt ihr zu mir zum Zähne putzen. Die anderen sind alle schon fast bettfertig.«Die beiden Kinder nickten eifrig und gingen die Treppe hinunter.Phil zeigte ihr einige andere Zimmer im Haus. Neben vielen kleinen Schlafzimmern gab es drei Schulzimmer und einen grossen Speisesaal. Phil erklärte ihr die Tagesabläufe, Hausregeln und welche Erzieherinnen und Lehrer streng waren. Die graue Frau hiess Frau Thorne. »Pass auf, dass du sie nicht verärgerst, sie ist immer hier. Sie wohnt oben im Zimmer unterm Dach.« »Sie sieht aus wie eine böse Hexe aus einem Märchen, dabei ist sie nicht Mal eine Magierin«, flüsterte Runa Phil ins Ohr. Sie kicherten.»Kennst du Magier?« fragte er.»Na klar, mein Grossvater ist ein sehr guter Magier.«Die Augen des Jungen weiteten sich. »Meine Mutter konnte Sachen schweben lassen. Bist du schonmal auf einem Besen geflogen?« Runa lachte, »Nein, Besen sind unpraktisch hat mein Grossvater gesagt, aber mit einem Riesenflughund.«»Woah, ich bin noch nie geflogen. Wie sieht ein Riesenflughund aus?«»Ein bisschen wie eine Fledermaus, aber ihr Fell ist rotbraun und ihr Kopf sieht aus wie ein Hund mit grossen Augen. Sie sind echt süss und natürlich viel grösser als Fledermäuse und Zwergflughunde.«Phil war beeindruckt von dem neuen Mädchen. Sie war zwar kleiner als er, aber sie schien schon so viel erlebt zu haben. Er war froh, dass sie mit ihm im Zimmer war. Vielleicht würde sie seine Freundin werden, dachte sich Phil. Nach dem Rundgang liefen sie zurück in ihr Zimmer und zogen sich zum Schlafen um. Nuria fragte Runa, ob sie etwas brauchen würde, wünschte ihnen gute Nacht und knipste das Licht aus. Die Dunkelheit löste in Runa ein beklemmendes Gefühl aus. Sie lag in einem fremden Bett und lauschte der Stille. Fest umarmte sie ihren Plüschhasen, den sie aus ihrem roten Köfferchen geholt hatte. Sie dachte an zu Hause und an ihren Grossvater. Das Bild des gemütlich knisternden Kamins wurde von einer Erinnerung verdrängt. Ihr letztes Gespräch mit ihrem Grossvater hallte in ihrem Kopf wie ein schrecklicher Albtraum nach.»Runa, hör zu, du weisst, dass dich böse Männer suchen. Weil du eine sehr spezielle Gabe hast.«Sie hatte genickt. »Bei dir bin ich sicher, hast du gesagt«, hatte sie mit banger Stimme geantwortet.»Ja, dass habe ich auch gedacht.« Sorgenfalten hatten seine Stirn gezeichnet und er hatte Runa in die Arme genommen. »Es tut mir leid, ich habe mich geirrt.« Sie hatte angefangen zu weinen und er hatte sie getröstet, bevor er weitergesprochen hatte. »Es sind Männer unterwegs hierher, die dich suchen. Sie dürfen dich nicht finden. Eine Freundin von mir wird dich an einen Sicheren Ort bringen. Es gibt dort ganz viele andere Kinder, aber sie haben keine Gabe wie du und ich. Du musst deine auch verstecken. Verstehst du?«Runa hatte genickt.»Versprich mir, niemandem zu erzählen, dass du eine Magierin bist.«»Ich verspreche es Grossvater.«»Musst du auch weg?« hatte sie gefragt.»Mach dir keine Sorgen mein Häschen.« Er hatte gelächelt, aber Runa hatte die Angst in seinen Augen gesehen. Runas Kehle war zugeschnürt, Tränen rannen über ihre Backen. Wo war ihr Grossvater?»Kannst du schlafen? Ich konnte meine erste Nacht auch lange nicht schlafen«, sagte Phil in die Stille hinein. Leise begann er, eine Melodie zu summen, die Melodie seiner Mutter. Runa weinte stumm und hörte zu. Phil dachte an das kleine Mädchen in dem anderen Bett. Er konnte sich gut vorstellen, wie schrecklich einsam sie sich fühlen musste. Hoffentlich konnte sie bald schlafen. Er summte leise vor sich hin. Bis er nach einer Weile verstummte. Runa lauschte Phils regelmässigen Atemzügen. Draussen vor dem Fenster sass die Tigerkatze und sah mit ihren bernsteinfarbenen Augen zu ihnen hinein. Runa beobachtete sie und die Katze beobachtete Runa. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, während sie zusah, wie die Katze ihr langes Fell putze. Nach einer Weile schlief sie ein.

Runa: Chaos der ErinnerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt