Runa schlenderte, mit einem kleinen Jungen an der Hand über den Markt. Die Leute tummelten sich um die Stände. Jeden Morgen wurden hier die frischesten Kräuter, die man in Lodur finden konnte, angeboten. Es gab auch Käse, Pilze und Gemüse. Hinter den Ständen standen Bauern, die ihre Ware jeden Morgen in die Hauptstadt brachten. Ihre Gesichter waren Wettergegerbt und die Hände schwielig.
Runa blieb vor einer Theke stehen, die nach Tee, frisch gemähtem Heu und Salbei roch.
«Was darf es diesmal sein?»
Die Stimme kam von einem kleinen Moosweibchen, dessen Augen knapp über den Tisch sahen. Die bucklige Gestalt stieg auf einen Schemel, um Runa zu bedienen.
«Johanniskraut, Eisenhut und Kahlköpfe.»
Zwei Feen, die zwischen den Kräutern gesessen hatten, schwirrten nun über den Tisch. Sie sammelten die grünen Sträusse, um sie Runa zu überreichen. In einem winzigen Körbchen brachten sie die kleinen Pilze.
«Viel zu tun in der Praxis?», fragte das Moosweibchen.
Runa nickte.
«Ja, wie immer.»
Sie bedankte sich und bezahlte, dann schweiften ihre Augen über den Markt, als würden sie etwas suchen. Zwischen den Menschen sah man immer wieder andere Wesen. Ein Igelmann und eine Igelfrau gingen an ihr vorbei. Kleine Gnome standen unter einem leeren Tisch und schnitten Grimassen. Eine grüne Gestalt huschte in ihrem Augenwinkel über ein Dach. Ein Silvaridis dachte sie sich mit einem Lächeln. Wehmütig erinnerte sie sich an Zika, die nun wieder in ihrer Heimat lebte. Runa hatte sie schon einige Monate nicht gesehen.
«Mamaaa», quengelte der kleine Junge an ihrer Hand und riss sie aus ihren Gedanken.
Sofort wandte sie sich ihm zu und ging in die Hocke. Er hatte hellbraune Locken, deren Spitzen von der Sonne gebleicht waren. Seine Wangen waren leicht gerötet.
«Ich habe dir einen Rosinenschneck versprochen, den holen wir jetzt.»
Seine Augen leuchteten auf. Er lies ihre Hand los und schlüpfte zwischen den Beinen Herumstehender hindurch. Runa erhob sich und hastete ihm hinterher, doch sie verlor ihn aus den Augen. Ihr Herz begann heftig zu schlagen, während sie sich durch die Leute zwang und den Kopf nach links und rechts drehte.
«Phileas?!», rief sie. Leichte Panik erklang in ihrer Stimme.
Sie erreichte den Stand mit Backwaren. Da entdeckte sie den Lockenkopf ein Stück entfernt. Er drehte sich um sich selbst und starrte in die Fremden Gesichter. Seine Augen glitzerten, den Tränen nahe.
«Hier bin ich!» Runa winkte.
Phileas drehte seinen Kopf und entdeckte sie. Runa rannte zu ihm und nahm ihn in die Arme. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Rock. Sie strich durch sein Haar.
«Ist ja gut, ich bin wieder hier.»
Sie kaufte ihm den Rosinenschneck und hielt Phileas das süsse Gebäck hin. Ein Strahlen breitete sich über sein Gesicht aus.
«Danke Mama», dann biss er hinein.
Runa lächelte und hielt die kleine weiche Hand nun fester.
«Da seid ihr», erklang eine Stimme.
Sie hob ihren Blick. Saphira stand vor ihnen. Zur Begrüssung küssten sie sich kurz, dann drehte sich Saphira Phileas zu.
«Hallo mein Kleiner.»
Sie bückte sich und küsste den Jungen auf den Kopf.
«Mamiii»
Phileas umarmte ihre Beine. Saphira lachte hell.
«Darf ich einen Biss?»
Er reichte ihr den Rosinenschneck und sie biss ein Stück ab.
«Mhm, der ist ja noch warm.»
«Wie war deine Sitzung?», fragte Runa.
Saphira rollte die Augen.
«Es war ein hin und her, aber jetzt haben wir uns endlich auf einen Entwurf für das neue Gesetz geeinigt.»
«Das freut mich.»
«Gehen wir nachhause? Mein Magen hat schon die letzten zwei Stunden im Kongress geknurrt.»
Runa nickte.
Zu dritt liefen sie durch die Strassen zu einer Haltestelle. Klingelnd hielt die grüne Strassenbahn an. Sie stiegen ein und setzten sich für eine Weile auf die hölzernen Sitze.
An einer Station, wo die Häuser weniger dicht standen und hinter Steinmauern grüne Gärten lagen, stiegen sie aus.
«Weisst du, wer heute Abend kommt?», fragte Runa und musterte Phileas.
Er schüttelte den Kopf, so dass seine Locken hin und her flogen.
«Grossmama Ragna.»
«Kommt sie als Katze oder Mensch?»
Saphira lachte.
«Das wirst du dann sehen.»
Sie kamen zu einem weissen Haus. Runa drehte den Schlüssel um. Aus der Küche kam ein herrlicher Duft.
«Hallooo! Und wie war der Kongress?», rief eine Stimme.
Saphira schlüpfte aus ihren Stiefeln und ging in die Küche.
«Gut.»
Phileas stürmte an ihr vorbei in die Küche.
«Was gibt's zum Essen?», fragte er.
Rose lachte und umarmte den Jungen, der auf sie zu sprang.
«Lasagne, das magst du doch gerne.»
Er nickte.
Roses Haare waren nun ganz grau. Kleine Falten zierten ihr Gesicht.
«Thore hat einen Brief geschrieben, er kommt nächste Woche wieder nach Andora und fragt, ob wir Zeit haben.»
«Onkel Thore? Dann kann er mir wieder von seinen Abenteuern erzählen!»
Runa lächelte und nickte. Thore war, wie zuvor als Geheimagent unterwegs. Dieses Mal jedoch im Auftrag Andoras. Er erzählte Phileas immer Geschichten, die mit Sicherheit seiner Fantasie entsprangen, schliesslich durfte er nicht über seine Arbeit sprechen.
«Ach und er fragt nach Koval und Tara. Er meinte wir sollten wieder einmal ein grosses Familienfest machen.»
Runa holte ein kleines Büchlein und schlug die Agenda auf.
«Im Juli haben wir Zeit.»
Koval und Tara wohnten eine Strasse weiter. Sie hatten Zwillinge, die zwei Jahre älter waren als Phileas. Der Junge und das Mädchen hatten vor einem Jahr die Schule angefangen. Die Kinder glichen sich, obwohl sie Zwillinge waren, nur wenig. Das Mädchen kam eher nach Koval. Ihre Arme waren jetzt schon kräftiger als die der anderen Kinder. Lange Stacheln fielen ihr in den Nacken. Ihre Augen waren dieselben, wie die ihres Vaters. Kovals Sohn hingegen sah bis auf die kurzen Stachelhaare, die jedoch sehr dünn waren, wie ein gewöhnliches Kind aus.
Rose holte die dampfende Lasagneaus dem Ofen. Sie setzten sich zu viert an den Tisch. Der Geschmack von Käse, Tomatenund Rosmarin explodierte in Runas Mund. Sie musterte Saphira, die Müde aussah undschenkte ihr ein Lächeln. Mit der Hand strich sie über das Haar von Phileas. Stolzund Glück lag in ihrer Brust. Sie hatte die Familie gefunden, die sie sich als Kindso sehr gewünscht hatte. Manchmalwar sie traurig, dass Phil ihren Sohn nie kennenlernen würde. Ihr Herz schmerztedumpf bei dem Gedanken an ihn. Doch es war erträglicher geworden. Sie würde dieErinnerung an ihren Freund und Bruder für immer in sich bewahren.
DU LIEST GERADE
Runa: Chaos der Erinnerung
FantasyEine alte Prophezeiung warnt vor dem Dämon Abbadon der die Macht über die Menschen erkämpfen will und prophezeit zwei Mädchen die eine aussergewöhnliche Gabe besitzen. Sie könnten ihn besiegen oder ihm weitere Macht über die Menschen bringen. Runa...