29 Danach

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Runa öffnete die Augen. Der Schmerz pochte dumpf in ihrer Brust. Sie setzte sich auf und fühlte ein Stechen in ihrem Kopf. Vorsichtig betastete sie mit den Fingern ihre Schläfen. Sie fühlte getrocknetes Blut. Ihre Beine schienen zu brennen. Weisser Verband bedeckte ihre verbrannte Haut. Sie fühlte einen Regentropfen, der auf ihre Hand fiel und sah zum Himmel. Dunkle Wolken hatten sich zusammengebraut. Sie blickte um sich und bemerkte Phils Körper, der neben ihr lag. Sie neigte sich über ihn und schüttelte sie ihn.

«Phil», flüsterte sie erstickt.

Seine Haut war kalt wie grauer Stein, wenn die Sonne nicht scheint. Das Gesicht war weiss wie Schnee.

«Wach auf», flehte sie mit dem letzten Funken Hoffnung, dass er sie hören konnte. Doch es war schon viel zu spät. Schliesslich sank Runa auf seine Brust und weinte in sein Hemd. Die Schluchzer schüttelten ihren Körper.

Saphira stand ein Stück entfernt. Sie war schon länger wieder hier. Ihre Haut war bis auf ein paar Schürfwunden unversehrt. Gemeinsam mit Rose trug sie die Toten, die überall bei der Ruine lagen, zueinander. Sie legten sie in eine Reihe. Die Reihe wurde immer länger.

Die Körper der Schattensoldaten waren im Tod nicht mehr von den anderen Menschen zu unterscheiden. Ihre Gesichter spiegelten das Entsetzen ihres letzten Augenblickes. Rose schloss ihre Lieder. Ihr Gesicht war unendlich traurig. Nur die gemeinsame Arbeit mit Saphira hielt sie bei Sinnen. Ihr Sohn war gestorben. Der Schmerz erfüllte sie.

Als der Kampf vorbei gewesen war, hatte sie bei ihren Kindern gewacht die Hände auf ihnen. Sie hatte gefühlt, wie Phils Herz langsamer wurde. Doch die Panik, die sie beinahe erfasst hätte, drängte sie zurück. Sie hatte Phil zum Abschied geküsst und seine Lieder geschlossen, wie sie es nun bei den fremden Toten tat. Danach hatte sie Saphira in den Armen gehalten und ihrem schwachen Atem gelauscht, bange und hoffnungsvoll zugleich. Sie hatte leise Tränen geweint, dann war sie aufgewacht.

«Mama?», hörte Rose ihr erstes Wort in ihren Gedanken erneut.

Noch nie hatte sie so viel Freude und Traurigkeit zugleich gespürt. Tränen der Erleichterung waren über ihre Wangen geströmt. Sie hatte ihre Tochter noch enger in die Arme geschlossen und geflüstert, «mein Mädchen, ich hatte solche Angst um dich.»

Jetzt standen sie beieinander neben dem tiefen Riss in der Erde und den Trümmern der alten Ruine. Es begann zu regnen, so als weinte der Himmel mit ihnen über die verlorenen Seelen, die gewaltvoll aus dieser Welt gerissen worden waren.

Ragna kümmerte sich um unzählige Verwundete. Nach Tara, Zika, Koval und Thore hatte sie zuerst gesehen. Nun verband sie Soldaten des Ministeriums. Immer wieder spähte sie zu Runa hinüber. Nach einer Weile ging sie zu ihr. Sie lag zusammengekauert bei Phils Körper, während der Regen sie durchweichte. Ragna löste ihre Arme von der starren Leiche.

«Runa, er ist fort», sagte sie sachte. «Komm, sonst holst du dir eine Erkältung.»

Sie nahm Runa an der Hand und brachte sie unter einen Baum, der noch ein wenig Schutz vor dem Regen bot. Ragna legte, ihr einen Mantel um und musterte besorgt ihre verschmutzten Verbände. Sie würde die Wunden noch einmal reinigen müssen.

Einige Soldaten hatten begonnen die Verletzten in den weniger beschädigten Autos, die verstreut auf den Feldern standen ins nächste Dorf zu bringen. Ragna winkte einen von ihnen zu sich.

«Könnt ihr uns mitnehmen?»

Der Soldat musterte Runas blaue Lippen und wies sie an ihm zu folgen. Zusammen mit vier anderen quetschten sie sich in ein viel zu kleines Auto und fuhren über die Wiesen, die langsam matschig wurden. Es war dämmrig, als sie das Dorf erreichten. Einige Fenster der Häuser waren zersprungen. Auch hier lagen Leichen in den Pfützen. Die Dorfbewohner hatten den Kampf eindeutig zu spüren bekommen.

Runa: Chaos der ErinnerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt