Die graue Frau schwenkte einen Stapel Briefe, während die meisten Kinder aufgeregt, mit den Augen ihrer Hand folgten. Runa beachtete das Geschehen wenig. Sie strich ihre schulterlangen Haare hinter ihr Ohr und trank einen Schluck Milch. Die Briefe wurden verteilt und die Kinder, welche Post erhalten hatten, tuschelten aufgeregt. Runa ass ihr Butterbrot und versteckte ein Stück kostbarer Wurst in ihrer Hosentasche. Ein Räuspern liess Runa zusammenzucken. Schnell legte sie ihre Hand wieder auf den Tisch und drehte vorsichtig den Kopf. Die graue Frau platzierte ein kleines Paket neben den Teller. »Für wen ist das?« fragte sie und sah Phil an, der rechts von ihr sass. »Für dich«, antwortete Frau Thorn trocken und ging weiter. Runas Augen weiteten sich. Noch nie hatte sie Post bekommen. Nicht in den letzten drei Jahren, die sie schon hier wohnte. Wer hatte es ihr geschickt? Was war in dem Paket drin?Ihre Sitznachbarn schauten zu ihr rüber und tuschelten. Manche sahen Runa neidisch an. Päckchen waren eine Seltenheit, wenn es nicht Weihnachten war. Runa starrte den rechteckigen Karton an und strich vorsichtig mit den Fingerspitzen darüber.Ein etwas älteres Mädchen auf der anderen Seite des Tisches packte das Päckchen und schwenkte es über ihrem Kopf. Runa ballte die Hände zu Fäusten. Wenn sie nur wüsste, dass sie eine Magierin war, dachte sich Runa. Zu blöd, dass sie ihre Fähigkeiten verstecken musste. Selbst wenn sich die Kräfte noch kaum bemerkbar machten, manchmal passierte es aus Versehen, dass sie ein kurzes Bild in den Augen anderer Kinder sah. Runa sprang auf und rannte um den Tisch herum. Sie ignorierte die schrille Stimme von Frau Thorn. Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Sie starrte das ältere Mädchen an. Das Paket schwebte über ihr in der Luft.Phil, der das Geschehen beobachtet hatte, stand auf und kam zu Runa. »Gib es ihr zurück!«Das ältere Mädchen lachte und warf es einem Jungen zu, der Runa um einen Kopf überragte. Er grinste sie an.»Nah soll ich es aufmachen?«Sie stand regungslos vor ihm und sah Hilfe suchend nach einem Erwachsenen. Doch die Erzieher waren nirgends im Esszimmer zu sehen. Phil versuchte das Paket zu packen. Erreichte es aber nicht. Einige Kinder lachten und beobachteten das Spektakel. Er ballte die Fäuste und funkelten den Grösseren an. »Gib es zurück oder...«»Oder was?«, sagte er mit einem spöttischen Grinsen.Phils Faust sauste auf den Jungen zu und traf seine Nase. Das Paket fiel zu Boden. Blut lief über das Kinn des Älteren. Runa ergriff das Päckchen, bevor jemand anderes es ihr wegnehmen konnte. Sie hörte schlurfende Schritte, die sich näherten. Runa packte Phils Hand und sie rannten los. Die wütenden Rufe von Frau Thorn hallten hinter ihnen durch den Speisesaal. In diesem Moment schien das Wegrennen der beste Ausweg. Hoffentlich würde es den Ärger, den sie später bekommen würden, nicht vergrössern.Sie rannten durch den Flur um die Ecke und hielten keuchend an.Ungeduldig umklammerte sie das Päckchen. »Nah los, mach es auf!«, drängte Phil.Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht hier. Komm.«Möglichst unauffällig huschten sie zum Eingang und verliessen das Gebäude. Eilig überquerten sie den Rasen vor dem Haus und schlüpften durch das Metalltor. Hinter der mit Efeu überwachsenen Steinmauer setzten sie sich. Phil war ebenso ungeduldig wie Runa darauf, was in dem Paket sein würde. Er musste sich selbst eingestehen, dass es klug gewesen war, hierher zu kommen. Frau Thorn suchte sie jetzt bestimmt im ganzen Haus. Runa kratze mit den Fingernägeln am Klebstreifen und riss ihn vom Paket. Sie beugte sich über die Öffnung und wollte mit der Hand hineingreifen. Ein Fauchen liess sie innehalten. Die Tigerkatze sprang von der Mauer und näherte sich dem Paket. Ihre Nacken Haare sträubten sich. Runa und Phil sahen erschrocken zu dem Tier und wagten sich nicht sich dem Paket zu nähern. Ein Funkeln spiegelte sich in den Katzenaugen. Die Katze umkreiste den Karton und stiess ihn um. Ein Anhänger fiel ins Gras. Es war eine filigran ausgearbeitete Feder aus Silber. In der Mitte glitzerte ein Stein in Form eines Tropfens. Der Stein war rot, rot wie Blut.»Wow, es ist so schön«, sagte Phil staunend. »Weisst du, wer es dir geschickt hat?«. Runa schüttelte den Kopf. Die Schönheit des Amuletts raubte ihr den Atem. Wer hatte es ihr geschickt? Sie streckte die Hand nach dem Schmuckstück aus, bevor sie es berühren konnte, fuhr eine Pfote mit ausgefahrenen Krallen dazwischen. Runa zog die Hand zurück. Ihre Augen weiteten sich überrascht. Nie hatte die Tigerkatze sie gekratzt. Aber jetzt zogen sich lange blutiger Kratzer über ihre Hand. »Was zum Teufel macht sie?«, fragte Phil.Runa zuckte mit den Schultern. »Ich weiss nicht, was sie hat.«Die Katze hatte sich zwischen Runa und das Paket gestellt. Der Schwanz peitschte hin und her. Trotz ihres gesträubten Fells wollte Runa sich nicht abschrecken lassen. Das Amulett gehörte ihr. »Okay, okay«, sagte sie ruhig zu der Tigerkatze.Phil beobachtete das Szenario mit gerunzelter Stirn. »Runa ich glaub, sie will nicht, dass du es anfasst. Vielleicht hat sie recht, du solltest vorsichtig sein.« Runa ignorierte ihn und streichelte die Tigerkatze. Schnell und plötzlich griff sie nach dem im Gras liegende Amulett. Kaum hatte sie das Schmuckstück angefasst, durchzuckte sie ein elektrischer Stoss. Der Anhänger liess Bilder vor ihren Augen an ihr vorbei strömen. Der Zauber, den die Berührung ausgelöst hatte, zeigte ihr Vergangene Ereignisse. Es war ähnlich, wie wenn sie Bilder in den Augen von anderen Menschen sah, aber es war nicht so kurz, sondern sie tauchte ganz in diese Bilder ein.Eine Frau mit roten Locken beugte sich über ein kleines Kind im Gras, Blut verfärbte ihre Brust. Die Luft roch nach Rauch und es war heiss. Flackerndes Licht spiegelten sich in den Augen der Frau, die das Mädchen mit roten, zarten Locken küsste. Runa kam die Frau seltsam bekannt vor, aber sie wusste nicht woher. Wer war sie, wer war dieses Kind? Es war klein, gerade alt genug, um laufen zu können.Plötzlich wechselte das Bild und sie stand auf einer Lichtung. Weisse Federn wirbelten um sie herum und verwandelten sich zu leuchtenden Schmetterlingen. Runa sah, wie das kleine Mädchen mit den roten Locken die Hand ausstreckte und versuchte, eine Feder zu fangen, aber die Feder wurde schwarz und zerstob zu Asche. Eine dunkle Gestalt stand neben dem Mädchen. Der Mann lächelte. Er war von schwarzen Schleiern umhüllt. Die dünnen Stoffe bewegten sich mit dem Wind. Nur seine Hände und sein Gesicht waren unter dem bodenlangen Gewand sichtbar. Die Haut war grauweiss, fast unmenschlich. Das kleine Mädchen schien keine Angst zu haben, sie schritt auf ihn zu. Eine Stimme so sanft wie Harfenmusik liess sie innehalten. Eine Frau stand hinter ihr. Die Federn lösten sich von ihrem Kleid und da stand ein anderes Mädchen. Sie war gleich gross wie das erste Kind, aber ihr Haar war schwarz. Schmetterlinge sassen auf ihr und bewegten ihre Flügel. Das Mädchen lachte hell. Runa sog die Bilder in sich auf und sie spürte eine tiefe Verbindung mit diesem Ort. So plötzlich wie die Bilder gekommen waren, zerstoben sie. Runa öffnete die Augen und lächelte. Das Fell der Katze hatte sich geglättet. Das Silber in ihrer Handfläche war heiss. Wer waren die Kinder? Wer waren diese beiden Gestalten? War dieses kleine Mädchen mit den roten Locken Runa selbst? Diese Frau davor, war sie ihre Mutter?Runa wusste es nicht, weil sie sich nicht mehr an ihre Eltern erinnern konnte. Einen Moment betrachtete sie das Amulett. Wie war es zu ihr gekommen? Sie spürte die Macht, die von ihm aus ging. Zögernd legte sie die Kette um ihren Hals und liess den Anhänger unter ihrer Bluse verschwinden. Jemand hatte ihr dieses Schmuckstück geschickt und sie war sich sicher, dass es kein Zufall war.»Was ist passiert Runa? Du warst plötzlich wie versteinert? Geht es dir gut?«Phil redete schnell und aufgeregt. Er sah besorgt zu ihr.»Ich glaube ich habe meine Mutter gesehen«, sagte Runa zu Phil. Er sah sie mit grossen Augen an, während Runa erzählte, was sie gesehen hatte. »Du darfst niemandem davon erzählen.« Er nickte mit gerunzelter Stirn. Phil wusste, dass Frau Thorn die Magier hasste. Aber er glaubte nicht, dass Runa deshalb ein Geheimnis daraus machte, dass sie eine Vision von einem magischen Amulett gesehen hatte. Trotzdem würde er das Schmuckstück selbst auch verstecken. Er dachte an den Vorfall von zuvor. Es war sicher besser, wenn die anderen Kinder das Amulett nicht zu Gesicht bekamen und Frau Thorn schon gar nicht. Aber irgendetwas verschwieg Runa ihm trotzdem, da war er sich sicher. Aber er nahm es ihr nicht über, er hatte ihr auch einiges nicht erzählt. »Phil, wenn ich dir etwas erzähle, versprichst du mir, niemals mit jemandem darüber zu sprechen?«. »Ja«, sagte Phil. Seine Augen waren gross geworden.»Schwöre es mir.«»Ich schwöre es.«»Phil ich...«, sie seufzte und warf einen Blick über ihre Schulter. Sie waren allein. Trotzdem sprach sie leise.»Ich bin keine Gabenlose, aber das darf niemand wissen.«Phil musterte Runa. Ihre Worte kamen ihm bekannt vor. Er dachte an seine Eltern. Sie hatten ihm das gleiche über seine Schwester gesagt. Jetzt waren alle drei fort. Warum war er schon wieder derjenige, der keine Magie besass? Er biss die Zähne zusammen und ballte eine Faust, doch dann rief er sich die Worte seines Onkels in das Gedächtnis. »Ich habe auch keine Gabe Phil, uns wurde nichts in die Wiege gelegt. Aber wir können uns unser Können selbst aneignen.«Phil lächelte Stolz. Sein Onkel hatte ihm Kämpfen beigebracht. »Lass deine Wut am Boxsack aus, nutze sie für etwas sinnvolles. Du musst lernen sie im Zaun zu halten.«Sein Onkel hätte ihm eine Predigt gehalten, wenn er gewusst hätte, dass er dem anderen Jungen eine blutige Nase geschlagen hatte. Aber er war nicht hier. Er war nie hier. Phil zog eine Goldmedaille aus der Tasche und betrachtete sie. Ich kann etwas anderes. Kein Kind seines Alters schlug ihn im Ring, das wusste er nur zu gut.Phil musterte Runa, sie schien auf eine Reaktion zu warten. »Musstest du darum weg von zu Hause?«Runa nickte.»Mein Grossvater hat mich zusammen mit einem geheimen Orden versucht zu verstecken, weil ich eine sehr seltene Gabe habe.«Sie wusste nicht viel über diesen Orden, aber sie erinnerte sich noch an die Leute, die hin und wieder vorbei kamen. Hinter geschlossenen Türen sprachen sie über Dinge, die Runa nicht verstanden hatte. Nur manchmal hatte sie ihren Namen gehört, wenn sie an der Tür gelauscht hatte. »Sie haben mich hierhergeschickt, weil mich niemand hier sucht. Ich war bei meinem Grossvater nicht mehr sicher.«Phil nickte und zupfte einzelne Grashalme aus. »Meine Schwester hatte auch eine seltene Gabe«, sagte er leise, »sie musste auch weggehen.«Runa musterte ihn. Er hatte ihr nie gesagt, was mit seiner Familie geschehen war. »Phil, ich weiss es nicht, aber ich glaube, nachdem ich gegangen bin, ist meinem Grossvater etwas zugestossen. Sonst hätte er sicher einen Weg gefunden mich hier zu besuchen.« Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie über diese Geschehnisse redete und das erste Mal überhaupt, sprach sie diese Befürchtung laut aus. Tränen glitzerten in ihren Augen. Die Tigerkatze strich um sie und legte sich in ihren Schoss. Sie schnurrte, als ob sie Runas Trauer verstehen würde.Runa streichelte ihr Fell.»Du musst dir keine Sorgen um diese Dinge machen«, sagte sie zu der Katze. Sie miaute, als würde sie widersprechen.Das Miauen der Tigerkatze erinnerte sie an das Stück Wurst in ihrer Hosentasche. Runa zog es heraus und legte es der Katze ins Gras. Diese verschlang es gierig in wenigen Happen. »Runa...«. Phil wusste nicht, was er ihr sagen sollte. Er dachte an seine Mutter und seinen Vater, sie wurden vom Ministerium für Staatssicherheit bei Nacht und Nebel verhaftet. Er und sein Onkel hatten nie wieder etwas von ihnen gehört. »Später Junge, wenn du älter bist.«Das sagte sein Onkel jedes Mal, wenn Phil nach dem Grund für die Verhaftung fragte. Wieder ballte er seine Fäuste. Er hasste nichts mehr als diese verdammten Gendarmen in ihren grünen Uniformen.»Das Ministerium für Staatssicherheit hat meine Eltern verhaftet. Sie haben sie mir weggenommen, ich werde niemals dein Geheimnis verraten. Dich werden sie mir nicht wegnehmen.« Er schwor sich selbst, alles dafür zu tun. Runa lächelte.»Danke«, sagte sie und schwieg einen Moment.»Ich frage mich, warum die Regierung solche Angst vor meiner Gabe hat.«»Was hast du denn für eine Gabe?«, fragte Phil, dem aufgefallen war, dass er das nicht wusste.»Erinnerungen lesen, aber ich kann es noch nicht wirklich.«Würde sie eines Tages alle seine Erinnerungen sehen können? Er sah Runa beunruhigt an. »Keine Angst, das geht nur wenn ich in die Augen von jemandem schaue, und es braucht Zeit. Ich werde nicht ohne zu fragen in deinem Kopf herumwühlen.«Phil entspannte sich. »Untersteh dich, dass zu versuchen«, meinte er halb grinsend halb ernst.
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Runa: Chaos der Erinnerung
FantasyEine alte Prophezeiung warnt vor dem Dämon Abbadon der die Macht über die Menschen erkämpfen will und prophezeit zwei Mädchen die eine aussergewöhnliche Gabe besitzen. Sie könnten ihn besiegen oder ihm weitere Macht über die Menschen bringen. Runa...