2 Eine Feder

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Die graue Frau schwenkte einen Stapel Briefe, während die meisten Kinder aufgeregt, mit den Augen ihrer Hand folgten. Runa beachtete das Geschehen wenig. Die Briefe wurden verteilt und die Kinder, welche Post erhalten hatten, tuschelten aufgeregt. Runa ass ihr Butterbrot und liess ein Stück kostbarer Wurst in ihrer Hosentasche verschwinden.

Ein Räuspern liess Runa zusammenzucken. Schnell legte sie ihre Hand wieder auf den Tisch und drehte vorsichtig den Kopf. Die graue Frau legte ihr ein kleines Packet neben den Teller. «Für wen ist das?» fragte sie und sah ihre beiden Sitznachbaren an. «Für dich», antwortete Frau Thorn trocken und ging weiter. Runas Augen weiteten sich. Noch nie hatte sie Post bekommen. Wer hatte ihr etwas geschickt? Was war in dem Packet drin?

Ihre Sitznachbarn schauten zu ihr rüber. Päckchen waren eine Seltenheit, wenn es nicht gerade Weihnachten war. Runa starrte den rechteckigen Karton an und strich vorsichtig mit den Fingerspitzen darüber. Ein etwas älteres Mädchen auf der anderen Seite des Tisches packte das Päckchen und schwenkte es über ihrem Kopf. Runa ballte die Hände zu Fäusten. Wenn sie nur wüsste, was sie konnte, dachte sich Runa. Zu blöd, dass sie ihre Fähigkeiten verstecken musste, auch wenn sich die Kräfte noch kaum bemerkbar machten. Manchmal passierte es doch aus Versehen, dass sie ein kurzes Bild in den Augen anderer Kinder sah.

Runa schoss empor und rannte um den Tisch herum. Sie ignorierte die schrille Stimme von Frau Thorn. Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Sie starrte das ältere Mädchen an. Das Packet schwebte über ihr in der Luft. Ein paar Kinder Lachten. Plötzlich tauchte Phil neben ihr auf. Runa hatte kaum Zeit zu reagieren, bevor seine Faust die Magengrube des Mädchens traf. Das Packet fiel zu Boden und Runa packte es, bevor jemand anderes es ihr wegnehmen konnte. Das grössere Mädchen vor ihr krümmte sich am Boden und weinte. Schlurfende Schritte näherten sich ihnen. Runa packte Phils Hand und sie rannten los. Die wütenden Rufe von Frau Thorn hallten hinter ihnen durch den Speisesaal. Vielleicht war es nicht klug einfach wegzurennen. In diesem Moment schien es jedoch der beste Ausweg. Hoffentlich würde es den Ärger, den sie bekommen würden, nicht vergrössern. Aber vielleicht würde Nuria für sie bei Frau Thorn ein gutes Wort einlegen. Sie rannten durch den Flur um die Ecke und hielten keuchend an.

Ungeduldig umklammerte sie das Päckchen.

»Nah los, mach es auf!«, drängte Phil.

Sie schüttelte den Kopf. Runa deutete ihm an, ihr zu folgen. Möglichst unauffällig huschten sie zum Eingang und verliessen das Gebäude. Eilig überquerten sie den Rasen vor dem Haus und schlüpften durch das Metalltor. Hinter der mit Efeu überwachsenen Steinmauer setzten sie sich. Phil war beinahe ebenso ungeduldig wie Runa darauf, was in dem Packet sein würde. Er musste sich selbst eingestehen, dass es klug gewesen war hierher zu gehen. Frau Thorn suchte sie jetzt bestimmt im ganzen Haus.

Runa kratze mit den Fingernägeln am Klebstreifen und riss ihn vom Packet. Sie beugte sich über die Öffnung und wollte mit der Hand hineingreifen.

Ein Fauchen liess sie innehalten. Die Tigerkatze sprang von der Mauer und näherte sich dem Packet. Ihre Nacken Haare sträubten sich. Runa und Phil sahen erschrocken zu dem Tier und wagten sich nicht sich dem Packet zu nähern. Ein Funkeln spiegelte sich in den Katzenaugen. Die Katze umkreiste den Karton und stiess ihn um.

Ein Anhänger fiel ins Gras. Es war eine filigran ausgearbeitete Feder aus Silber. In der Mitte glitzerte ein Stein in Form eines Tropfens. Der Stein war rot, rot wie Blut.

«Wow, es ist so schön», sagte Phil staunend. «Weisst du, wer es dir geschickt hat?».

Runa schüttelte den Kopf. Die Schönheit des Amuletts raubte auch ihr den Atem. Sie streckte die Hand nach dem Schmuckstück aus, doch bevor sie es berühren konnte, fuhr eine Pfote mit ausgefahrenen Krallen dazwischen. Runa zog die Hand zurück. Ihre Augen weiteten sich überrascht. Noch nie hatte die Tigerkatze Runa gekratzt. Aber jetzt zogen sich lange blutiger Kratzer über ihre Hand.

Runa: Chaos der ErinnerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt