5 Der Rabe

18 3 5
                                    

Die kristallblauen Augen hatten grosse Pupillen und eine Träne glitzerte in ihnen, bevor sie sich löste und über die Wange rollte. Runa konzentrierte sich auf das Muster der Iris und lauschte auf ihren eigenen ruhigen Atem. Ihre Gedanken fokussierte sie auf sich selbst. Es funktionierte. Sie wurde nicht in die Gefühle und Erinnerungen gerissen, obwohl sie die starken Emotionen in den Augen sah. Die Kontrolle über ihre Magie lag in ihrer Hand. Ein stolzes Lächeln glitt über ihre Lippen.

«Erzähl mir was passiert ist», sagte sie zu dem Jungen auf ihrem Schoss.

Sie lauschte seiner Erzählung und tröstete ihn, während sie ihn weiter ansah und die Kontrolle behielt.

«Er hat mich ausgelacht und gesagt ich darf nicht mitspielen. Und sie haben meine Mütze weggenommen und auf das Dach geworfen», sagte er. «Die Mütze hat mir Papa geschenkt.» Er schluchzte wieder auf.

Phil sass neben ihnen und fügte aufmunternde Worte hinzu.

«Wir holen deine Mütze wieder und nächstes Mal hau ihm eine, dann macht er das nicht noch einmal», sagte er.

Runa sah Phil kurz an und verdrehte die Augen. «Das ist das Einzige was hilft.»

«Mhm, wenn du meinst.»

Der Junge beruhigte sich etwas und lehnte den Kopf an Runas Schulter. Sie wandte sich wieder dem Jungen zu und sah ihm in die Augen. Runa wollte versuchen die Erinnerung zu sehen, die ihn zum Weinen brachte. Die Umrisse ihrer Umgebung verschwammen als sie sich auf die Augen und die Emotionen in ihnen konzentrierte. Sie verlor das Gefühl für Raum und Zeit der Gegenwart und tauchte in den Strudel aus Farben und Geräuschen. Sie hörte wütende Schreie von Kindern und versuchte sich auf sie zu konzentrieren. Aber sie verschwammen wieder und der Strudel trug sie weiter in die Vergangenheit. Runa fragte sich, was wohl am Ende eines Strudels war. Wenn sie bis vor die Geburt von jemandem zurück ging. Der Gedanke machte ihre Angst. Jedoch war sie schon viel zu lange durch den Strudel in die Tiefe geglitten, um die richtige Erinnerung zu finden. Die Erinnerungen, die sie hier umgaben, mussten länger zurückliegen. Warum sollte sie es nicht herausfinden. Runa liess sich mitziehen. Sie hörte irgendwo ein Baby weinen und plötzlich ergriff sie die Panik davor zu lange in dem Wirbel zu bleiben. Sie wusste nicht, was an seinem Ende geschehen würde. Wild entschlossen kämpfte sie gegen den Wirbel an und versuchte zu dem Geräusch des Babygeschreis zurückzurudern. Es gelang ihr kaum, denn der Strudel zerrte sie weiter in die Vergangenheit. Kurz sah sie ein Lichtstrahl und sie konzentrierte sich darauf. Schemenhafte Umrisse kamen auf sie zu.

Sie spürte einen winzigen Körper. Es war ihr, als atmete sie nicht, dann sog sie doch die Luft in sich. Ihre Lunge schmerzte und sie schrie. Die Welt war unscharf und farblos. Über ihr war etwas sehr Helles, es blendete sie. Vermutlich war es eine Lampe. Eine unscharfe Gestalt beugte sich über sie und es wurde dunkler. Sie konnte das Gesicht nur verschwommen sehen. Eine Hand hielt ihr etwas Kaltes auf die nackte Brust. Alles war schwarz, grau oder weiss. Runa war jetzt still und beobachtete was geschah. Sie bewegte sich zappelnd und ohne Kontrolle über ihren Körper. Gedämpfte stimmen drangen an ihr Ohr. «Möchten Sie ihn halten?» fragte eine tiefe Stimme. Spürte wie sie hochgehoben wurde und in die Arme von jemand anderen gelegt wurde. Es war angenehm warm. «Hallo mein kleiner, ich bin dein Papa.» Runa war überrascht, dass die Worte so klar in der Erinnerung waren, obwohl sie damals für ein Baby unverständliche Laute gewesen waren. Aber sie konnte schliesslich auch Erinnerungen sehen, an die sich andere nicht mehr bewusst erinnern konnten. Sie spürte, wie sie sanft hin und her bewegt wurde. Es beruhigte ihr kleines Herz. Ihre Augen schlossen sich und es wurde Dunkel. Ihre Glieder waren schwer und sie spürte, wie sie einschlief.

Runa kehrte in die Gegenwart zurück. Erschreckt sah sie auf die Uhr. Hoffentlich hatte sie nicht zu lange in den Erinnerungen verbracht. Sie wusste nicht genau, wann sie angefangen hatte die Erinnerungen, des Jungen auf ihrem Schoss zu lesen. Verdammt, dachte sie sich. Der kleine Junge schmiegte sich an sie. Er war jetzt ruhig und schien nichts bemerkt zu haben. Sie strich ihm über seine Haare. Er wischte sich nach einer Weile die Tränen aus dem Gesicht und streichelte die Tigerkatze. Schliesslich ging er aus dem Zimmer zurück zu anderen Kindern, um zu spielen.

Runa: Chaos der ErinnerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt