30 Küstenwind

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Die Wellen krachten gegen die Klippen. Das rhythmische Schlagen wurde vom Geschrei der Möwen begleitet. Die Sonne brannte heiss auf die Erde nieder. Der Sommer färbte die Gräser gelb. Der Wind wehte Runas Haare aus ihrem Gesicht, während sie über das Meer blickte. Ihre Hände umklammerten ein rundes Tongefäss. Das lange schwarze Kleid blähte sich auf. Sie neigte ihre Lippen zu der Urne und küsste sie. Mit geschlossenen Augen dachte sie an sein schelmisches Lächeln.

«Ich hoffe du bist glücklich dort, wo du jetzt bist», flüsterte sie.

Die Urne wurde an Saphira und dann Rose weitergereicht. Runa griff nach Saphiras Hand. Ihr Hals fühlte sich zugeschnürt an. Sie wartete, bis sich alle verabschiedeten. Zuletzt überreichte Ragna die Urne an Thore. Er öffnete sie und der Wind ergriff die Asche. Klirrend zersprang sie an einem Felsen, als er sie hinunter zum Meer warf. Das Wasser nahm die Scherben mit sich. Runa hörte Rose schluchzen und sah, wie Thore sie in die Arme nahm, während er sich auf einen Gehstock stützte. Es waren einige Wochen vergangen seit dem Kampf. Er würde noch länger brauchen, um von seinen grossflächigen Verbrennungen zu heilen. Runa starrte hinunter in die Tiefe.

«Ich brauche ein bisschen Zeit für mich», flüsterte sie leise.

Sie hob ihren Blick. Abseits von ihnen stand ein Mädchen mit bronzenem Teint. Ihre Schwarzen Haare flatterten im Wind. Tränen liefen über ihr Gesicht. Runa runzelte die Stirn und fragte sich, warum sie nicht bei ihnen stand. Sie musterte das fremde Gesicht und die markanten Kieferknochen. Sie war hübsch. Das Mädchen wendete den Kopf und sah zu ihr herüber. Runa winkte ihr zu und lächelte. Sie winkte zurück, dann drehte sich Runa um und schritt über die Wiesen. Langsam entfernte sie sich ein Stück von dem kleinen Trauerkreis. Sie lauschte dem Wind. Sie fühlte das Verlangen Phil alles zu erzählen, so wie sie es immer getan hatte. Runa sah bis zum Horizont und fragte sich, wohin ihn der Tod gebracht hatte. Sie setzte sich auf die Wiese und begann einen Brief zu schreiben. Die Tinte zog schwungvolle Linien über das Weiss. Runa dachte nicht lange nach, bevor sie schrieb, sondern schüttete ihr Herz in die Feder und brachte es zu Papier.

Lieber Phil

Ich weiss nicht, ob du diese Worte jemals erhalten wirst. Wahrscheinlich nicht und trotzdem schreibe ich dir. Ich habe deiner Mutter in den letzten Wochen viel von dir erzählt, weil du die Zeit dazu nicht mehr hattest. Sie fragt mich immer noch manchmal nach einem Detail, dass sie nicht von dir weiss.

Lauren habe ich einen Brief geschrieben, die Adresse hatte ich aus deinem Notizbuch in deinem Rucksack. Ich habe ihr erzählt, dass du sie geliebt hast. Sie ist hierher zu deiner Beerdigung gekommen. Ich denke du hast ihr auch viel Bedeutet.

Wir streuen deine Asche über das Meer, weil du dich dort immer frei und glücklich gefühlt hast.

Die Welt verändert sich langsam. Letzte Woche wurde eine neue Präsidentin gewählt. In ein Paar Tagen stehen Friedensgespräche mit den Wesen aus dem Nordwald an, allerdings begegnet man ihnen vereinzelt schon jetzt in Andorra. Einige sind nach dem Kampf hiergeblieben. Die Menschen sind ihnen dankbar, ohne sie hätte es wohl viel mehr Opfer gegeben. Trotzdem vermisst fast jede Familie ein Mitglied. Der Schock ist noch tief in unserem Land spürbar.

Die ehemalgien Schattensoldaten, haben alle vergessen, wer sie sind. Man sieht sie nun als Bettler auf den Strassen. Manchmal tun sie mir fast leid.

Thore und ich erholen uns noch immer von unseren Verletzungen. Unsere Freunde haben den Kampf alle überstanden. Du bist der Einzige, der von uns gegangen ist. Langsam kehren wir alle in den Alltag zurück. Saphira und ich wohnen jetzt zusammen in Lodur. In einigen Wochen fange ich ein Studium an. Ich werde lernen wie, man mit Tränken und Heilpflanzen Menschen hilft. Saphira wurde in den Grossrat gewählt und widmet sich der Politik von Andora. Sie ist die jüngste Politikerin unserer neuen Regierung. Ich bin unfassbar stolz auf sie.

Es ist seltsam ohne dich. Ich vermisse dich jeden Tag. Es fühlt sich an, als fehlt ein Teil von mir. Manchmal denke ich plötzlich daran, was ich dir erzählen könnte. Jedes Mal wird mir dann schlagartig wieder bewusst, dass du nicht mehr hier bist. Ich versuche deine Bitte zu erfüllen und glücklich zu sein, aber manchmal ist es schwer. Ich werde dich niemals vergessen.

In Liebe deine Runa

Runa fühlte, wie Tränen über ihre Wangen kullerten. Ein salziger Tropfen verwischte die Tinte. Sie faltete den Brief und hob ihn in die Höhe. Der Wind erfasste das Blatt und trug es über die Klippen. Der weisse Punkt wurde kleiner und sank hinab. Der Küstenwind trug ihren Abschied mit sich fort.

Runa wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging zurück zu den anderen. Sie umarmte Saphira und atmete ihren Duft ein.

«Ich liebe dich», flüsterte sie.

«Ich liebe dich auch.»

Runa: Chaos der ErinnerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt