3 Dunkle Geheimnisse

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Runa stand vor dem Tor des Waisenhauses. Sie war gewachsen. Ihr Haar reichte ihr fast bis zur Hüfte. Sie trug einen kleinen Rucksack und wartete zusammen mit einer Schaar anderer Kinder. Bald würde das Wort Kinder die Schüler nicht mehr treffend beschreiben. Sie standen an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt. Der ein oder andere Junge spürte das erste Kratzen in seiner Stimme. Manche Mädchen bemerkten morgens im Spiegel, dass Haare unter den Achseln wuchsen. Heute machten die Schüler einen Ausflug mit ihrem Geschichtslehrer. Aufgeregt plapperten die Mädchen und Jungen. Ein alter Bus holte ihre Klasse ab. Die Kinder drängelten sich hinein und stritten um die begehrtesten Plätze. Phil und Runa setzten sich vorne beim Busfahrer auf zwei Sitze, die leer blieben, weil die anderen alle nach hinten wollten. Der Bus fuhr los und verlies das Dorf, in dem das Heim lag.Runa sah während der Fahrt aus dem Fenster. Grüne Wiesen wechselten sich mit bewaldeten Hügeln ab. Langsam wurden die Häuser häufiger und Strassen mündeten ineinander, um sich später wieder zu verzweigen. Auf den Bürgersteigen gingen Menschen in eiligem Tempo zu ihrem, für Runa unbekanntem Ziel. Die Ausläufer der Stadt Nimadan verdichteten sich gemeinsam mit dem Verkehr. Der Bus ruckelte vorwärts und stoppte bei jeder Ampel, bis er endlich auf einem Parkplatz hielt. Langsam leerten sich die Sitze. Aufgeregte Stimmen quasselten und der Lehrer hatte Mühe, sich Gehör zu verschaffen, um die Richtung anzukündigen. Sie liefen durch grosse Strassen und später durch schmalere Gassen, die von Fachwerkhäusern der Altstadt gesäumt waren. Nimadan war voll von Menschen. Manche von den Vorübergehenden stachen den Schülern ins Auge, wenn sie kleine magische Tricks ausführten. Zauberei bekamen die Waisen selten zu Gesicht. Auf einem grösseren Platz vor einem majestätischen Gebäude tummelten sich Menschen. Eine kleine Frau in einem schwarzen Regenmantel blickte auf die Uhr und strich über ihren grauen Rock, der darauf seine Farbe zu einem Türkisblau änderte. Ihr Mantel wurde zu einer glänzenden Lederjacke. Sie eilte die Stufen zu dem Gebäudekomplex hinauf.Einige der Mädchen aus der Schulklasse jauchzten entzückt über den Zauber und folgte mit grossen Augen der Frau, bis sie in dem Gebäude verschwunden war. Kurz darauf in einer Gasse blies ein Mann Rauch aus seinem Mund, der sich in einen grauen, galoppierenden Schimmel verwandelte. Die Rauchformen lösten sich bald darauf wieder auf.Phil beobachtete die Zauber wie die anderen Kinder. Es gefiel ihm und er rannte mit einem Jungen aufgeregt hin und her. Er kam ab und zu Runa, die mit zwei anderen Kindern redete und zeigte ihr Dinge, die er entdeckt hatte. Sie lächelte und beobachtete stumm, das pulsieren der Stadt. Phil verdrehte die Augen.»Für dich ist es wohl nichts spezielles.« »Es sind nur einfache Zauber, die die Leute hier auf offener Strasse anwenden, sagte sie und zuckte mit den Schultern. »Manchmal habe ich das Gefühl ich gehöre mittlerweile gar nicht mehr in die Welt der Magier«, sagte sie leise, damit niemand sie hörte. Ihr Gesichtsausdruck war traurig. »Ich weiss gar nicht mehr so genau wie mein Grossvater ausgesehen hat.«Phil nickte, er wusste, was sie meinte. Er hatte keine Erinnerungen mehr an die Gesichter seiner Familie. Manchmal schloss er die Augen und versuchte sie sich vorzustellen. Sie gingen schweigend mit Abstand hinter den Mitschülern her und betrachteten die Umgebung. Die Schaufenster boten Kleidung, Schmuck und Bücher an. Hinter einem sah man viele kleine Glasfläschchen und grosse rauchende Kessel. Immer wieder blieb ein Teil der Schüler stehen und schaute einem neuen Schauspiel zu. Nach einer Weile erreichten sie das nationale Landesmuseum. Das Gebäude wurde von steinernen Säulen gestützt. Die grossen Tore waren weit geöffnet. Drinnen wurden im ersten Ausstellungsraum alte Werkzeuge aus dem Mittelalter gezeigt. Texte erzählten von einem ärmlichen Leben der Menschen und den grausamen Hexenverfolgungen der Kirchen. Runa und Phil lasen von der Bekämpfung von Dämonen. Der Lehrer erzählte der Klasse, dass die Zauberer die meisten Dämonen von dieser Welt vertrieben hatten.Ein Kind streckte auf.»Ja, Jack.«»Haben die Magier die Dämonen getötet?«»Teilweise, aber manche sind zu mächtig und von Menschen kaum besiegbar. Diese wurden in die Zwischenwelt verbannt, dort wo die Dämonen ursprünglich herkommen.«»Können sie zurückkommen?« plapperte ein Mädchen, ohne sich vorher zu melden. »Ja das geschieht manchmal. Eine Militäreinheit der Magier kämpft dann gegen sie und schickt sie zurück.« »Warum hat man früher Hexen verbrannt?«»Viele Menschen hatten Angst vor Magiern und dachten sie sind Böse. Die Kirche hat damals den Menschen gesagt sie würden die Dämonen in diese Welt lassen. Was theoretisch vorkommen kann, aber die Dämonen haben definitiv auch andere Wege. Manchmal entstehen sie neu, aber das werdet ihr erst in ein paar Jahren lernen.« Die Schüler redeten aufgeregt und wandten sich von ihrem Lehrer ab. Leise murmelte er halb zu sich selbst.»Wenn ein Dämon entsteht, ist etwas schreckliches passiert.« Die Schüler hatten es nicht gehört. Sie gingen in den nächsten Raum und sahen sich weitere Bilder und alte Artefakte an.Zuerst zeigten Ölgemälde, Kämpfe von Zauberern gegen dunkle Geschöpfe, im nächsten Raum waren es schwarzweiss Fotos. Texte berichteten von technischen Fortschritten und der Industrialisierung. Während die gabenlosen Menschen die moderne Technik entwickelten, befreiten die Magier die Welt weitgehend von den dämonischen Plagen. Gemeinsam erarbeiteten sich alle Bürger ihre heutigen Privilegien und Fortschritte. Es war eine glorreiche Geschichte eines Staates, der seine dunkelsten Geheimnisse verschwieg. Jedoch äusserte sich der Lehrer zu Runas und Phils Enttäuschung nicht zu den lückenhaften Informationen über den Staat. Niemand der anderen Kinder schien die niedergeschriebenen Geschichten anzuzweifeln. Es wirkte so, als seien Hexenverbrennungen alle lange her, denn von einem jüngeren schrecklichen Ereignis wurde nicht berichtet. Das Ministerium für Staatssicherheit wurde im Museum als stolzes Staatsorgan beschrieben. Die Gendarmen gingen zum Wohl des Volkes gegen Eindringlinge und Verbrecher vor. »Runa ich habe keine Lust mehr, das hier stimmt doch alles nicht. Das Ministerium tut doch nicht nur Gutes.«»Ja«, meinte sie und nickte. »Mein Onkel sagt, unser Präsident ist ein Diktator. Es gab schon zehn Jahre keine richtigen Wahlen mehr.«Sie nickte, »das hast du erzählt.«Runa und Phil liefen mit zwei anderen Jungen in einen Raum, wo sie auf einem riesigen Besen schaukeln konnten. ***Nach dem die Klasse den Rundgang im Museum beendet hatte, bekamen sie Zeit, um in Gruppen Nimadan zu erkunden. Runa ging zusammen mit ein paar anderen Mitschülern in die Altstadt. Sie besuchten kleine Läden und kauften Souvenirs. Ein dunkler versteckter Bücherladen, der Bücher über Zauberkräfte, Tränke, magische Wesen und Artefakte verkaufte, fiel Runa ins Auge. Die anderen Mitschüler waren nicht interessiert hineinzugehen. Sie verabschiedete sich deshalb von ihnen und ging alleine hinein. Beim Betreten des Ladens klingelte ein Glöckchen. Im dämmrigen Licht zwischen hohen Regalen las Runa die Titel der Bücher. Eines hatte einen roten Drachen auf dem Titelbild. Sie blätterte durch die Seiten und legte es wieder ins Regal. Der Titel eines anderen Buches sprang Runa darauf ins Auge. DROGENSAMMLUNG UND IHRE VERWENDUNG. Sie nahm das Buch in die Hand, überflog das Inhaltsverzeichnis und schlug ein paar Seiten auf. Ein handgefertigtes Bild einer Pflanze mit schwarz glänzenden Beeren, die über den fünfsternigen Kelchblättern wuchsen, liess sie innehalten. Atropa Belladonnas Gift konnte eine tödliche Wirkung entfalten und wurde früher für Schönheitszwecke zur Pupillenerweiterung verwendet. Sie hatte aber auch heilsame Kräfte und wenn man sie mit Phönixtränen und Quarzpulver mischte, erhielt man einen mächtigen Zaubertrank. Die Wirkungen des Trankes liessen einen Menschen im Dunklen sehen, las Runa auf einer Seite. Sie war fasziniert und brachte das Buch zur Theke. Ein gebückter Man kam aus einem Hinterzimmer zu ihr. »Ah ich sehe, ein Buch mit vielen Verwendungsmöglichkeiten.« Runa nickte. »Wie viel macht das?«»22 Nickel«. Sie holte die Münzen aus der Tasche, zählte sie und legte sie auf die Theke. Dieser Preis war so viel wie ihr karges Taschengeld, dass sie in zwei Monaten erhielt. Der Verkäufer wischte das Geld vom Tisch und legte es in die Kasse. Runa sah zu, wie es verschwand. Danach schlug der Mann das Buch in Papier ein und reichte es Runa. »Einen schönen Abend noch«, wünschte sie ihm.Runa drehte sich um und wollte das Geschäft verlassen. In diesem Moment registrierte sie einen Mann mit einem schwarzen Hut, dessen Krempe sein Gesicht beschattete. Er stand auf der anderen Seite des Gangs zwischen den Bücherregalen und sah zu ihr hinüber. Kurz kreuzten sich ihre Blicke und Runa sah für einige wenige Sekunden Bilder vor sich vorbeiströmen, die ihr Herz schneller schlagen liessen. Sie hielt wie erstarrt inne, während sie von einem Farbenstrudel herumgewirbelt wurde und in den Bildern gefangen war. Ein unbekannter Ort umgab sie. Sie spürte den Herzschlag und die Gefühle eines sich fremd anfühlenden Körpers. »Findet sie! Sie bringen uns den Tod«, schrie ein kleiner, dicker Mann auf einem Podest. Sie sah zu dem Sprecher hoch. Neben ihr standen Männer in grünen Uniformen. Runa sah an sich hinunter und bemerkte, dass sie selbst ebenfalls grüne Hosen aus festem Stoff trug. Als er sich wegdrehte, kehrte Runa in die Gegenwart zurück. Wie lange hatte er sie schon beobachtet? Von einem unguten Gefühl verfolgt verliess sie das Geschäft und überquerte die Strasse. Sie liess sich auf der anderen Seite von den Menschen mittreiben. Ihr Herz pochte. Sie hatte in seinen Augen ein Bruchstück einer Erinnerung des Mannes mit dem Hut gesehen, da war sie sich sicher. Runa atmete schnell. Hatte er es gespürt, dass sie in seinen Kopf eingedrungen war und seine Erinnerung gesehen hatte?Ihr Grossvater hatte sie gewarnt. Einestages würde sie nicht mehr unsichtbar sein. Ihre Magie würde sich bemerkbar machen. Sie würde lernen müssen sie zu kontrollieren, hatte er gesagt. Sie eilte atemlos durch die Strasse und warf immer wieder einen Blick über die Schulter. Plötzlich packte eine Hand Runas Arm. Sie wurde in eine schmale dreckige Gasse gezogen. Ihr Herz raste und ihre Gedanken überschlugen sich. Eine Gestalt, die nicht gross war, aber einiges stärker als Runa, hielt sie fest. Der Griff der fremden Hand war eisern. Runa biss die Zähne zusammen, weil es schmerzte. »Schscht«, zischte die Stimme, die zu der Hand gehörte und lockerte den Griff. Runa drehte den Kopf und sah um sich, nicht weit von ihr liefen die Menschen über die Strasse. Keiner sah in die Gasse, zwischen den zwei alten Steinhäusern, die knapp breit genug war, um hindurchlaufen zu können. Sie überlegte, den Mund zu öffnen, um zu schreien. Aber sie schwieg, als sie an den Mann im Bücherladen dachte. Er war ihr vielleicht gefolgt und befand sich sicher nicht weit von hier. Wäre sie nicht gewaltvoll hierhinein gezogen worden, hätte sie sich hier zwischen den Mauern, sicher gefühlt. Sie musterte die Person, die sie festhielt.Katzenaugen starrten sie unter der Kapuze eines weiten Filzmantels an. Runa sah in die bernsteinfarbenen Augen, die zu einem runzligen Gesicht gehörten, dass von grauen, zerzausten Haaren umrahmt war. Die Hand der Frau hielt ihren Arm weiterhin fest. Ihre Nägel waren lang und schmutzig und die Haut runzlig. »Keine Angst«, sagte die Stimme, es klang kratzig, als hätte sie schon lange nicht mehr gesprochen, »Du kennst mich, ich war schon immer hier.« Runa runzelte die Stirn und starrte ihr in die seltsamen Augen. Farben und Geräusche wirbelten um sie, als sie abermals in eine Erinnerung eintauchte. Sie sass hoch oben und sah hinunter auf die Wiese, wo zwei Kinder spielten. Ein Junge mit braunen Haaren warf einem Mädchen, dass weiter weg stand einen Schneeball ins Gesicht. Sie wischte sich den Schnee von den Wangen und zog ihre grüne Mütze tiefer über die Ohren, bevor sie einem zweiten Ball auswich und selbst einen formte. Das Mädchen warf zurück und verfehlte den Jungen. Der Schneeball flog geradewegs auf Runa zu, sie sprang von der Mauer und landete im Schnee. Sie stiess ein Fauchen aus. Die Bilder des Erinnerungsfetzen waren seltsam verzerrt. Der Junge sah aus wie Phil früher. Das Mädchen war weiter Weck gestanden, aber trotzdem hatte sie ein komisches Gefühl. Das war ich, dachte Runa. Da begriff sie, wessen Erinnerungen sie gesehen hatte. »Ich bin Ragna. Darius hat mir aufgetragen dich zu beschützen. Wir waren gemeinsam im Orden der Prophezeiung.« Runa sah die Frau überrascht an. Was meinte sie mit dem Orden und was für eine Prophezeiung? »Ich glaube du hast Darius Grossvater genannt.«Runa sah auf den Boden. Darius hatte sie nicht allein gelassen. Nicht so wie, sie gedacht hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass sie nicht auf sich allein gestellt war. Er hatte immer versucht sie zu beschützen, das wusste Runa nun. Sie erinnerte sich an die Angst in seinen Augen, den hastigen Abschied. Niemand darf dich finden. »Wo ist er?«, Die Frau sah sie mit einem traurigen Blick an. Sie wusste es nicht. Aber sie hatte wie Runa eine Ahnung. Eine Version ihrer dunklen Gedanken, war vermutlich sein Schicksal gewesen. »Spürst du etwas von dem Amulett?« fragte die Frau und deutete auf ihre Brust, wo unter ihrem Hemd der Anhänger kühl auf ihrer Haut lag. Runa zuckte die Schultern. Sie war es mittlerweile so gewöhnt, ihn unter ihrem Hemd zu tragen, dass sie ab und zu fast vergass ihn zu verstecken, wenn sie sich beim Sport oder für Schwimmausflüge umziehen musste. »Manchmal wache ich von seltsamen Träumen auf und es ist heiss.«Die Frau sah sie mit einem seltsam wissenden Blick an.»Tut mir leid, dass ich dich gekratzt habe. Ich wusste nichts von diesem Amulett.«Runa fuhr sich über den Handrücken, auf dem eine helle weisse Linie sichtbar war. Aus irgendeinem Grund mochte sie die zarte Narbe, die mittlerweile fast verblasst war. »Macht nichts.«Runa verstand ihr Misstrauen, es hätte gefährlich sein können dieses Amulett zu berühren.»Weisst du jetzt mehr? Wer hat es geschickt?« Die Alte nickte.»Die Feder ist eng mit deinem Schicksal verwoben, aber ich weiss nicht, wer es geschickt hat. Bei Zeiten erzähle ich dir mehr. Aber zuerst werde ich dir zeigen, wie du deine Kräfte kontrollierst«, sagte die Frau mit ihrer rauen Stimme, die schon etwas menschlicher klang. »Du solltest von hier verschwinden, bevor dieser Mann dich findet. Folge mir ich bringe dich nachhause«. Sie liess sich auf alle viere nieder und verwandelte sich in die Tigerkatze, die Runa schon so lange kannte. Ohne ein weiteres Wort lief sie die Gasse entlang und Runa folgte ihr. Über schmale versteckte Wege gelangten sie an den Rand der Stadt zu dem Parkplatz, wo der Bus geparkt war. Der Fahrer wartete neben dem Fahrzeug und rauchte, während er sich mit ihrem Geschichtslehrer unterhielt. Er liess Runa schon einsteigen. Die Katze schlüpfte unbemerkt zwischen seinen Beinen hindurch und folgte Runa. Runa kauerte sich zwischen die Sitze und beobachtete in einem Spalt im Vorhang des Busfensters den Parkplatz und wartete, bis die anderen Schüler zurückkommen würden. Hoffentlich hatte der Mann sie nicht erkannt. Hoffentlich war sie weiterhin im Kinderheim für Gabenlose sicher.

Runa: Chaos der ErinnerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt