10 Der Nordwald

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Hoch oben in den Bäumen sprangen die Silvaridis über die Äste. Sie waren kleiner und schlanker als Menschen. Ihre braunen Haare waren wild zerzaust und mit Federn geschmückt. Am auffälligsten war ihre olivgrüne Haut, die sie jedoch zwischen den Blättern beinahe unsichtbar machte. Stumm kommunizierten sie mit Zeichen ihrer Hände, während sie leichtfüssig über die Äste balancierten. Wie Eichhörnchen hüpften sie auf den nächsten Baum. Über ihren Schultern hingen hölzerne Bögen.

Konnte man ihre Sprache verstehen, so verstand man, dass sie über einen Eindringling gestikulierten. Von überall kamen die Silvaridis zusammen. Ihre gelben Augen funkelten wütend. Ein Mensch war in ihren Wald eingedrungen.

In den letzten Jahrhunderten hatten Menschen ihnen und anderen Bewohnern des Waldes immer mehr Lebensraum weggenommen. Sie verteidigten dieses Revier gegen die invasivste Art der Welt. Das Waffenstillstandsabkommen, verbot es Menschen den Wald ohne Genehmigung von seinen Bewohnern zu betreten. Doch dieser Mensch hatte dagegen verstossen.

Von oben hinab, sahen sie den Menschen in ihrem Netz schaukeln. Die Haare waren rot wie Feuer. Die Silvaridis hassten Feuer. Es zerstörte Wälder und frass ihre Bäume. Sie pfiffen vogelähnliche Laute, um ihre Kumpane zu rufen, ohne den Menschen auf sich aufmerksam zu machen. Ihr Gehör war äusserst scharfsinnig. Einer von ihnen liess sich an einem Seil hinunter und hing nun vor dem Netz. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er den Menschen. Es war ein Mädchen. Sie war jung, aber kein Kind mehr.

Runa starrte das seltsame Wesen vor sich an. Irgendwo in einem Buch hatte sie einmal über sie gelesen. Doch sie mochte sich kaum noch entsinnen, was über sie geschrieben war. Sie erinnerte sich, dass sie sich selbst Silvaridis nannten.

Ein helles Lachen kam aus dem Mund des Silvaridis.

«Du in erste Falle gelaufen.»

Wieder lachte es.

«Dummer Mensch, kommt in unseren Wald und läuft laut wie ein Elefant.»

Runa glaubte zwischen den Blättern viele hunderte Augenpaare zu erblicken. Irgendwo oben erklang Gelächter aus vielen verschiedenen Mündern.

«Dummer Mensch, dumm dumm, khihihiii», sang es in den Bäumen.

Runa lauschte dem Szenario angespannt. Das Seil drückte in ihre Haut. Ihr Arm, in dem die Schnitte der Eisscherben klafften, schmerzte.

«Bitte könnt ihr mich runterlassen?»

«Mensch will raus khihihihiii.»

Das Netz pendelte langsam hin und her. Runa fragte sich, was sie sagen sollte, um aus ihrer Situation herauszukommen. Die Wesen schienen nicht besonders aggressiv, doch schienen sie ihren Spass daran zu haben, sie in ihrer Falle sitzen zu lassen.

«Sollen wir Mensch essen?»

Von oben erklang aus allen Richtungen helles Gelächter. Runa starrte den Silvaridis an. Meinte er das ernst? Sie grübelte, doch sie konnte sich nicht mehr erinnern, was diese Wesen assen.

«Mit Salz und Kräutern Mensch braten khihi khihihii.»

Runa wurde blass.

«Mensch hat Angst khihi.»

Runa war äusserst verunsichert über diese Wesen und konnte sie nicht einschätzen. Die Erschöpfung der schlaflosen Nacht machte sich bemerkbar. Ihre Augen brannten und ihr ganzer Körper schmerzte. Auch wenn es ihr zuvor nicht so stark aufgefallen, war so taten die Schnitte an ihrem Arm nun doch höllisch weh. Sie hatte bis jetzt keine Zeit gehabt die Verletzung zu betrachten. Vielleicht waren sie doch tiefer als sie geglaubt hatte. Durch das Adrenalin hatte sie zuvor wenig wahrgenommen. Nun pochte ihr ganzer Arm.

Runa: Chaos der ErinnerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt