21 Lügen

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Runa machte einen Schritt zurück. Sie musterte ihn. Trotz der Falten erkannte sie Darius. Das war ihr Grossvater. Oder etwa nicht? Nein sie wollte gar nicht daran denken. Wieder sah sie Rose an. Sie musterte ihre Augen. Sie könnte ihre Erinnerung lesen, um zu bestätigen, dass sie der Lusili war. Doch dann sah sie wieder zu Darius. Was wenn er der Lusili war? Sollte sie zuerst seine Erinnerung lesen?

Unbehagen machte sich in ihr breit. Wenn sie Erinnerungen las, wäre ihr Körper dem Lusili ausgeliefert.

Runa dachte an die Wintertage am Kamin, als ihr Grossvater ihr Märchen vorgelesen hatte. Der Duft nach Zimttee hatte in der Luft gehangen. Wieder Erinnerte sie sich an den Abschied, seine warnenden Worte. Sie drehte sich um und sah durch die Gitterstäbe.

«Was war das letzte, was Phil dir gesagt hat?»

«Er hat mich gefragt, ob ich wiederkommen. Ich habe ihn angelogen und gesagt, dass alles gut wird.»

Runa versuchte sich an Phils Erinnerung zu erinnern. Stimmte das? Waren das die letzten Worte seiner Mutter gewesen?

Sie war sich nicht sicher.

Runa drehte sich zu Darius.

«Was war das letzte, was du mir gesagt hast?»

Der alte Mann sah sie an. Tränen glitzerten in seinen Augen.

«Ich kann mich nicht erinnern. Ich weiss so vieles nicht mehr.»

Runas Atem stockte. Sie begann zu zittern.

«Bist du...»

Ihre Stimme brach.

«Bist du Lusili? Ist Darius tot?»

«Nein, Runa du musst mir glauben. Ich bin alt, ich...»

Er stockte und hob die Hand. Seine Finger zitterten, während er über Runas Wange strich.

«Ich kann mich nicht mehr erinnern.»

Runa starrte die beiden an und schwieg. Sie wusste nicht, was sie tun konnte. Sie wollte nicht mehr warten, bis sich diese Situation erledigte. Sie wollte raus aus dieser Höhle, weg, bevor sie herausfand, zu was für Wesen die orangenen Augen gehörten, und sie wollte wissen, ob es Saphira und Phil gut ging. Ohne viel zu überlegen, zerschlug sie das Schloss der Zelle. Vielleicht würde sie so herausfinden, ob Rose der Lusili war.

Rose stolperte hinaus und bedankte sich. Beinahe hatte Runa erwartet, dass sie sich in ein Monster verwandeln würde, sobald sie die Freiheit erlangte. Doch nichts geschah. Erleichterung machte sich in ihr breit.

Doch dann erinnerte sie sich, was das bedeuten könnte, und drehte sich um. Darius stand noch immer am selben Ort. Sie sah ihm in die Augen und aus irgendeinem Grund, spürte sie, was sie zuvor nicht hatte wahrhaben wollen. Dieses Gesicht mochte zwar das Gesicht ihres Grossvaters sein, aber es war nicht er. Die Augen waren undurchdringbar, das spürte sie.

Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, dass so gar nicht zu ihm gepasst hätte. In diesem Moment wusste Runa, das Darius tot war. Eine Gewissheit, die ihr die Sprache verschlug, machte sich in ihr breit. Sie hatte sich so sehr nach ihm gesehnt, all die Momente, wenn sie sich im Waisenhaus einsam gefühlt hatte. Das Gefühl von einem Zuhause hatte sie dort nicht gehabt. Ihre Brust schmerzte, als sie die letzte Hoffnung aufgab. Sie würde ihren Grossvater nie wiedersehen. Runa weinte nicht. Stattdessen sank sie in die Knie und lehnte sich gegen den kalten Stein und starrte in die Finsternis. Ihr Körper fühlte sich taub an.

In einiger Entfernung sah sie die orangenen Augen leuchten, die sich aus einem unbekannten Grund nicht näher trauten. War der Lusili es, den sie fürchteten?

Runa: Chaos der ErinnerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt