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Sobald ich das letzte Wort ihres Briefes gelesen habe, falte ich ihn schnell wieder zusammen. Die allerletzte Erinnerung, die ich von ihr habe. Ich rolle mich vor meinem Kleiderschrank auf dem Boden zusammen und weine bitterlich. Wieso hast du mich alleine gelassen? Irgendwann weiß ich nicht mal mehr, wie lange ich hier schon liege. Irgendwann versiegt auch die allerletzte Träne. Wie immer, wenn ich ihn lese. Nur, dass es das letzte Mal über ein halbes Jahr her ist. Heute hat es besonders wehgetan. Obwohl ich weiß, was darin steht, lese ich ihn trotzdem immer wieder. Jedes Mal tut es genauso weh, wie das aller erste Mal vor 5 Jahren. So lange ist es her, dass sich meine Mutter ihr Leben genommen hat. Damals habe ich nicht verstanden, wieso sie nicht mehr aufwachte, als ich von der Schule gekommen bin. Erst, als mein Vater von einer seiner Geschäftsreisen nach Hause gekommen ist. Nach weiteren zwei Jahren hat er mir endlich den Brief gegeben. Nach dieser langen Zeit habe ich mir endlich einige Antworten erhofft. Vergeblich. Der Brief hat mir nichts gebracht. Mit 16 stürzte ich ab. Mithilfe von Alkohol und Drogen konnte ich die unerträglichen Schmerzen vergessen, die mich wachhielten. Die mich davon abhielten, endlich zu leben. Ein Jahr konnte ich es sogar vor Sven geheimhalten. Als er es bemerkt hat, habe ich realisiert was ich getan habe. Als ich in seinen rehbraunen Augen all den Schmerz gesehen habe, habe ich es endlich realisiert. Der Tod meiner Mutter ist nicht das Ende.

Nach einiger Zeit gebe ich mir einen Ruck und verstaue die Kiste wieder in die letzte Ecke meines Schrankes. Wir sehen uns, aber hoffentlich nicht sehr schnell. Mit angewinkelten Beinen sitze ich auf dem Bett und greife nach meinem Handy. Ich weiß, dass ich Sven eine Nachricht schicken muss. Bevor ich eine Nachricht schreiben kann, stehe ich auf und wanke in die Küche. Dort wartet ein gekühlter Wein auf mich. Von den Drogen bin ich weggekommen, aber zum Wein greife ich trotzdem immer, wenn ich ihren Brief lese. Nach einigen Schlücken, weiteren Tränen und drei Zigaretten, schreibe ich ihm endlich. Ich schreibe ihm immer, wenn ich ihn gelesen habe. Nur er weiß davon. Er muss es wissen.

L: Ich hab den Brief gelesen Sven.
S: Du hast ihn lange nicht gelesen Schatz. Wie geht's dir? Brauchst du was?
L: Ich habe meinen Schrank ausgeräumt und dann ist er mir in die Hände gefallen. Es ist sechs Monate her gewesen. Mir gehts beschissen. Egal wie oft ich ihn lese...es wird nicht besser.
S: Ach es tut mir so leid. Soll ich mal vorbeikommen oder willst du lieber alleine sein?
L: Ich bleibe lieber alleine. Wenn was ist, rufe ich dich an!

Ich lege mein Handy zur Seite und schaue in den Himmel, der sich lila verfärbt hat. Ich blinzle in den Himmel und flüstere: „Heute bist du besonders schön Mama." Dabei rollt mir eine heiße Träne die Wange herunter. Umso dunkler es wird, desto kälter wird es auch. Irgendwann ist dann auch die Flasche Wein leer, sodass ich mich leicht schwankend in mein Wohnzimmer begebe. Ich schließe die Balkontüre hinter mir und schaue in meine stille, leere Wohnung. Dann stelle ich die Weinflasche auf meine Kücheninsel und gehe ins Badezimmer. Dort wasche ich mein heißes Gesicht, putze Zähne und flechte meine Haare zu einem Zopf. Sobald ich mich ins Bett lege, fallen meine vom Weinen müden Augen sofort zu.

Am Samstagmorgen erwache ich aus einem traumlose Schlaf. Es ist alles wie immer, aber trotzdem fühle ich mich leer. Wie so oft, wenn ich ihren Brief gelesen habe. Tage danach geht es mir meist schlecht, aber das Leben geht weiter. Es muss weitergehen. Sven ist deshalb auch nicht sauer, weil ich ihm absage. Ich kann nicht unter Menschen. Ich will keine Musik hören und schon gar nicht in ihre freudigen Gesichter blicken. Lange bleibe ich ihm Bett und starre an die Decke. Irgendwann hole ich mir dann doch ein Wasser und ein trockenes Toast. Das Wasser leere ich mit einem Zug, doch das Toast lasse ich liegen. So zieht sich mein Wochenende. Ich habe viel geschlafen, Wein getrunken und Filme geschaut. Jedoch hat keine einzige Träne meine Augen verlassen.

Montagmorgen klingelt der Wecker zur alt bekannten Uhrzeit. Heute bleibe ich länger liegen, als gedacht. Zehn Mal habe ich überlegt, ob ich auf die Arbeit soll oder nicht. Ich muss, das weiß ich. „Hey Süße. Wie gehts dir?", begrüßt mich Sven vorsichtig, als ich dann doch unser Büro betrete und meine Tasche auf den Boden fallenlasse. Ich gehe auf ihn zu und kralle mich an ihm fest. Meinen Klos im Hals versuche ich so gut es geht, herunterzuschlucken. Hier möchte ich nicht weinen. Er drückt mich ein Stück von sich weg und mustert mich besorgt. „Ich habe dir all deine Lieblingsnaschereien besorgt. Ich dachte du könntest sie gebrauchen. Sind in deiner Schublade.", flüstert er liebevoll und drückt einen Kuss auf meine Stirn. Ich lächle schwach und antworte: „Danke Sven. Du bist der Beste." Dankbar lächle ich ihn an und falle ihm gleich nochmal um den Hals. Was würde ich nur ohne ihn tun?

SophiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt