In den letzten Tagen war es still gewesen im Slytherin-Gemeinschaftsraum.
Nachdem sich das Gerücht rund um Potter verbreitet hatte, waren hitzige Diskussionen unter den Slytherins ausgebrochen, was den Wahrheitsgehalt der ganzen Geschichte anging.
Niemand wusste genau, wie das Gerücht in Umlauf geraten war, und niemand bestätigte es ihnen offiziell - aber ebenso stritt es auch niemand ab. Das Lehrpersonal reagierte etwas verhalten, aber keiner von ihnen widersprach den Gerüchten.
Den Gerüchten, dass etwas in der Schule versteckt gewesen war. Etwas, was Voldemort hatte haben wollen.
Ja, Gerüchte hatte es schon immer gegeben, darüber, dass der, dessen Name nicht genannt werden darf angeblich nicht tot war. Aber wo war er die letzten Jahre gewesen, wenn dies stimmte?
Und nun sollte er tatsächlich in Hogwarts aufgetaucht sein - in der Gestalt eines Professors?
Quirrell war bereits zuvor Lehrer gewesen, für Muggelkunde, ehe er sich für einen längeren Zeitraum beurlauben lassen hatte, um in Rumänien Forschungen zu betreiben. Das war es, was die älteren Schülerinnen und Schüler erzählten. Von seiner Reise zurück übernahm er die Stelle als Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste.
Einige behaupteten, die Sache mit Voldemort sei Blödsinn. Quirrell, der sowieso schon das ganze Schuljahr über merkwürdig gewirkt hatte, hatte offensichtlich etwas stehlen wollen, mehr steckte sicher nicht dahinter, behaupteten sie.
Greg und Vince redeten eine Weile über nichts anderes als den, dessen Name nicht genannt werden darf. Irgendeine Faszination von diesem angeblich doch nicht verstorbenen Zauberer schien auf die beiden auszugehen.
Draco hätte normalerweise jedes Wort angezweifelt - dass Voldemort in irgendeiner Form weiter existierte, dass er in Gestalt von Quirrell an die Schule gekommen war, dass er irgendetwas in Hogwarts hatte haben wollen, und dass Potter ihn irgendwie aufgehalten hatte.
Er hatte Blaise und Theo von seiner gruseligen Begegnung mit Quirrell erzählt, jedes kleinste Detail. Blaise hatte verschreckt ausgesehen und Theo war merkwürdig still geworden.
Und die Puzzleteile setzten sich langsam in Dracos Kopf zusammen.
Er hatte das Gefühl gehabt, dass irgendwelche merkwürdigen Dinge in Hogwarts vor sich gingen, das ganze Schuljahr über schon. Potters verhexter Besen, mitten bei einem Quidditchspiel. Der Troll, der alleine niemals ins Schloss hätte gelangen können. Die Ermordung des Einhorns. Und schließlich Dracos Begegnung mit Quirrell. Nein, hätte er es nicht selbst erlebt, hätte er es nicht geglaubt. Aber da war irgendetwas gewesen. All diese Dinge konnten kein Zufall sein. Und er wusste, wie merkwürdig Quirrell gewesen war, was für eine furchteinflößende Ausstrahlung der eigentlich lächerliche Professor gehabt hatte.
Draco konnte es nicht greifen, aber er wusste, dass das alles einen Zusammenhang hatte und einiges an der Geschichte wahr sein musste.
Was er anzweifelte, war, dass Potter tatsächlich eine große Heldenrolle gespielt hatte.
Tatsache war allerdings: Wenn der, dessen Name nicht genannt werden darf tatsächlich in Quirrell gesteckt hatte - dann war dieser Zauberer furchteinflößend und sehr, sehr bösartig.
Plötzlich war Draco froh, dass in dieser Nacht, als er Quirrell begegnet war, nichts Schlimmeres passiert war.
Jene Nacht, in der Potter - angeblich zum zweiten Mal - Voldemort besiegt hatte.
War Quirrell, als Draco ihm begegnete, tatsächlich gerade auf dem Weg wo auch immer hin gewesen, um was auch immer zu stehlen, was in Hogwarts versteckt war?
Viele zweifelten an, dass Voldemort tatsächlich noch am Leben war und hielten die ganze Geschichte für Quatsch.
Aber Draco sah die Details: Der verhexte Besen, der Troll, das tote Einhorn, und vor allen Dingen... Quirrell war verschwunden, er war nicht mehr gesehen. Vermutlich war Draco sogar der Letzte, der ihn gesehen hatte. Außer Potter natürlich, wenn man den Gerüchten glauben wollte.
Potter... Er war seit ein paar Tagen im Krankenflügel, angeblich war er im Kampf mit Quirrell oder Voldemort oder wie immer man es nennen wollte, verletzt worden.
Jedenfalls bekamen sie trotz der ganzen Aufregung ihre Zeugnisse, und zu Dracos größter Überraschung war es nicht Theo, der als Jahrgangsbester geehrt wurde, sondern - Hermine Granger.
Schließlich kam das Jahresabschlussfest.
In der Großen Halle sollte es ein besonderes Festmahl geben, und als Draco die Halle mit seinen Freunden betrat, mussten sie grinsen und sich fasziniert umsehen.
Alles war geschmückt in grün und silber und sah wunderschön aus. Ein riesiges Transparent mit dem Slytherin-Wappen bedeckte die Wand hinter dem großen Tisch für die Lehrkräfte. Die grün-silberne Deko fand sich überall, an den Fahnen, die von der Decke baumelten, als auch auf den Tischen. Ihr Haus hatte den Hauspokal nun schon das siebte Jahr in Folge gewonnen, und Draco war stolz, etwas dazu beigesteuert zu haben. Er hatte zwar auch zweimal Punkte verloren, aber viel mehr Punkte durch gute mündliche Beiträge, durchdachte Aufsätze, perfekt gebraute Tränke und vorbildliches Fliegen in den Flugstunden gewonnen. Ja, es war auch sein Verdienst, dass sie gewonnen hatten.
Er setzte sich mit seinen Freunden an den Tisch.
Es war ein gutes Gefühl, Marcus und Adrian zu sehen, die fröhlich miteinander anstießen. Alle Slytherins lachten, und Lucian und Ava wirkten besonders stolz. Draco wusste, wie sehr die beiden sich das ganze Jahr über ins Zeug gelegt hatten, um Punkte zu gewinnen. Immer wieder hatte er mitbekommen, wie überarbeitet die beiden waren, mussten sie nicht nur ihrem Amt als Vertrauensschüler nachkommen, sondern auch weiteren Verpflichtungen. Ava hatte Nachhilfe für jüngere Kinder angeboten und Lucian hatte all seine Energie in Quidditch gesteckt. Beides hatte ihnen viele Punkte eingebracht. Ganz abgesehen davon, dass die beiden ständig gemeinsam zusätzliche Aufsätze geschrieben hatten.
Endlich trat Dumbledore nach vorne, um seine Rede zu halten, und Draco sah, wie alle Slytherins viel schneller als sonst ihre Aufmerksamkeit auf ihn lenkten. Daphne stupste ihre Freundin Tracey freudig an und die beiden Mädchen schienen kaum still sitzen zu können. Ava und Lucian schwangen bereits ihre Beine über die Bank und drehten sich, um schnell aufstehen zu können, damit sie als Vertrauensschülerpaar den Pokal entgegennehmen konnten. Terence Higgs schlug bei Miles Bletchley ein.
Gespannt lauschten sie den Worten des Schulleiters, der die Punkte verlas: Auf dem letzten Platz war Gryffindor mit dreihundertundzwölf Punkten (Draco grinste über Potters trauriges und enttäuschtes Gesicht, denn ja, an diesem besonderen Abend war er nicht mehr auf der Krankenstation - auch Weasley guckte angesäuert. Zu der Freundin der beiden Gryffindors sah Draco bewusst nicht.)
Auf dem vorletzten Platz war Hufflepuff mit dreihundertundzweiundfünfzig Punkten, auf Platz zwei Ravenclaw mit vierhundertundsechsundzwanzig Punkten, und auf Platz eins...
Draco brach mit allen Slytherins in Jubel aus, als Dumbledore ihren ersten Platz mit vierhundertundzweiundsiebzig Punkten verkündete.
„Ja ja, gut gemacht, Slytherin", meinte Dumbledore, und Draco streckte stolz den Rücken durch.
Graham klopfte Lucian auf die Schulter, ein paar Mädchen umarmten sich glücklich.
„Aber wir müssen auch die jüngsten Ereignisse berücksichtigen."
Allgemeines Stirnrunzeln und fragende Blicke unter den Slytherins nach diesen Worten von Dumbledore.
„Ich habe noch ein paar Punkte zu vergeben", verkündete der Schulleiter.
„Was?"
Es war Ava, die es überraschend laut sagte.
„Aber es werden nie auf der Abschlussfeier Punkte vergeben!", rief sie.
Lucian legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter, während er den Schulleiter nicht aus den Augen ließ. Dieser ignorierte Avas Einwurf.
Dann vergab Dumbledore ganze fünfzig - fünfzig! - Punkte an Weasley für irgendeine Schachpartie.
Die Slytherins starrten sich fassungslos an.
Aber das war es nicht gewesen.
Dumbledore vergab weitere fünfzig Punkte an Hermine Granger für ihren Einsatz kühler Logik.
„Das sind hundert Punkte!", schrie Marcus in den Jubel der Gryffindors hinein. „Sie können nicht hundert Punkte vergeben, wenn der endgültige Gewinner bereits feststand! Die ganze scheiß Halle ist in unseren Farben geschmückt!"
Es gab zustimmendes Gemurmel unter den Slytherins.
„Wir führen immer noch!", hörte Draco Ava knurren, und er hatte sie noch nie so zornig erlebt.
Sie zitterte vor Wut, denn sie schien, wie auch Draco und vermutlich alle anderen, langsam zu begreifen, worauf das ganze hinauslaufen sollte.
„Drittens", fuhr Dumbledore ungerührt fort. „Verleihe ich Harry Potter für seine Unerschrockenheit und seinen Mut weitere sechzig Punkte."
„Wie bitte?"
Marcus und ein paar andere sprangen auf, Lucian legte seinen Arm um Ava, die mittlerweile bebte.
„Gryffindor hat Gleichstand mit uns", sagte Theo neben Draco.
„Was soll das?", meinte Blaise. „Wir haben gewonnen! Es werden ja wohl kaum zwei Hauspokale vergeben!"
Auch ansonsten hörte man aufgeregtes Murmeln am Tisch der Schlangen.
Dumbledore hob die Hand, und nur widerwillig wurden sie langsam still.
„Es gibt viele Arten von Mut", sagte Dumbledore. „Für die besondere Art von Mut, sich nicht nur seinen Feinden, sondern sogar seinen Freunden entgegen zu stellen, gebe ich zehn Punkte an Neville Longbottom!"
Es glich einer Explosion, die am Gryffindor-Tisch ausgebrochen war.
Die Gryffindors schrien, jubelten, begruben Longbottom unter sich.
Draco konnte nur fassungslos starren, sah, wie sich Tracey Davis unauffällig ein paar Tränen der Enttäuschung aus den Augenwinkel rieb, sah Lucians und Avas fassungslose Gesichter. Marcus knackte mit den Fingerknöcheln, Adrian umschloss seinen Becher so fest, dass es aussah, als würde er gleich damit werfen.
Terence Higgs war aufgesprungen und rief wütend irgendetwas, aber es war nicht zu hören, denn zu Dracos Unglauben waren es nicht nur die Gryffindors, sondern auch die Hufflepuffs und Ravenclaws, die fleißig klatschten, was sich seinem Verständnis entzog, hatten diese beiden Häuser doch gar keinen Vorteil von der unfairen Punktevergabe. Leise klopfte in seinem Hinterkopf die Erinnerung an einen Satz der älteren Schüler bei ihm an, dass er es eines Tages noch mitbekommen würde, dass es auch Nachteile hatte, ein Slytherin zu sein. So ganz verstand er es noch nicht, aber er spürte, es gab irgendeinen Zusammenhang zu dem, was hier gerade passierte.
„Nun, wir werden wohl ein wenig umdekorieren müssen", strahlte Dumbledore und hob die Hände.
Unter den fassungslosen Blicken der Slytherins wurde Grün zu Rot, Silber zu Gold.
Draco schluckte und blinzelte Tränen weg, als das riesige Transparent mit dem Slytherin-Wappen verschwand und durch ein Gryffindor-Banner ersetzt wurde.
Alle Slytherins rührten das Essen, das kurz darauf erschien, kaum an. Auch Draco war der Appetit vergangen.
Ava und Lucian hatten die Veranstaltung verlassen, ohne einen Bissen gegessen zu haben.
An ihrem Tisch wurde kaum geredet, während es an den anderen Tischen summte wie in einem Bienenschwarm.
Wut und Enttäuschung ballte sich zu einem schmerzhaften Klumpen in Dracos Magen zusammen.
Niemals, niemals in seinem Leben würde er diesen Abend vergessen.
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A Death Eater's Tale
FanfictionJeder kennt sie - die Geschichte vom Jungen, der überlebte. Auch Draco Malfoy muss in seinem Leben immer wieder feststellen, dass die Geschichte dieses Jungen Einfluss auf seine eigene Geschichte hat. Auch wenn er es anfänglich nicht bemerkt und spä...