Auf den Schwingen der Nacht - Teil 1

28 2 6
                                    

Der Herbst näherte sich mit großen Schritten seinem Ende. Klirrend kalte, sternklare Nächte lösten die Herbstnebel ab. Eisige Winde fuhren durch die nun kahlen Äste des Waldes Tarvel und rüttelten an Fenstern und Türen, hinter denen die Novizen der Kaste Arvia sich ihren Studien widmeten. Mittwinter stand bevor und damit erneut die Prüfungen.
Beinahe sehnsüchtig dachte Sirion an die Prüfungen des letzten Winters zurück, bei denen seine größte Sorge Gylledhs Prüfung gewesen war, da er ja einige Zeit lang vom Unterricht ausgeschlossen gewesen war.
Nun stand ihm nicht nur die Schwertprüfung Gylledhs bevor, sondern auch die Prüfungen in Religions- und Fledermauskunde von Clya und Tuular, für die er nun seit Wochen paukte.
Und dann war da noch der Teil der zweiten Prüfung, von der sie alle nur im Flüsterton sprachen, der Aufstieg des Fledermausreiters, gefolgt von dem Ritual der Verbindung.
Diesen Tag hatte er sich so oft in seinen Tagträumen vorgestellt, er konnte kaum glauben, dass er bald seinen Fledermausgefährten finden würde und jenes von den Göttinnen gesegnete Band zwischen Elf und Fledermaus knüpfen würde.
Mittlerweile waren es nur noch knapp zehn Tage zu den Prüfungen, die sich diesmal über zwei Nächte strecken würden, und wie so oft saß Sirion gemeinsam mit anderen Novizen in der Bibliothek.
Konzentriertes Arbeiten war nicht leicht, denn durch die im Haus untergebrachten Flüchtlinge war es sehr viel lebhafter geworden und ständig waren Rufe oder Fußgetrappel zu hören.
„Oh, können die nicht mal still sein?", fluchte Runam leise vor sich hin und sah zornig von ihren Aufzeichnungen auf. Bei ihnen allen lagen die Nerven blank, was nicht nur durch die Prüfungen verursacht wurde. Die Anwesenheit der Flüchtlinge erinnerte sie jede Nacht an das Unglück, welches Tarfaal heimgesucht hatte.
Über ganz Iridia schwebte der Schatten dieser Erinnerung. Nächtlich wehten Klagelieder durch die Äste des Baumes, Trauer um die verlorene Heimat vor die Göttinnen bringend. Die mitternächtlichen Gebete und Opfer, von den hohen Mitgliedern der Kaste Arvia zelebriert, wurden vor allem von den Flüchtlingen besucht. Man betete um Schutz für die Heimatlosen und für den Wald Tarvel. Die Angst, dass sich eine ähnliche Katastrophe erneut ereignen würde, hatte sich wie ein Leichentuch über die Stadt gelegt.
Sich durch die Haare fahrend blickte Sirion auf die Unterlagen zu den Opferritualen vor sich. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment platzen und die Luft hier wurde ihm mittlerweile schrecklich stickig.
„Ich geh mal an die frische Luft!", verkündete er, erhob sich und verließ die Bibliothek.
Rasch holte er seinen Mantel, dann eilte er nach draußen. Erleichtert sog er die Luft der kalten Winternacht ein und legte den Kopf in den Nacken. Ruka stand als volle Scheibe über ihm, während Arvia nur teilweise und Synnvea gar nicht zu sehen waren.
Er hatte genug von seinen Aufzeichnungen und entfernte sich rasch vom Novizenhaus. Wie so oft in den letzten Wochen drangen Klagelieder und Gebetsgesänge an seine Ohren, während er mit flottem Schritt ziellos über Wege, Brücken und Treppen ging.
Nach einiger Zeit hielt er auf einem Plateau an, wo er sich gegen einen Ast lehnte und seinen Blick umher schweifen ließ. Auf einem Platz etwas unterhalb von ihm fand eine Andacht statt, ein Krieger Arvias führte das Gebet an.
Nur kurz beobachtete Sirion die betenden Elfen, dann fiel ihm ein sehr bekannter Blondschopf auf, eine der nahen Treppen emporsteigend.
„Adano!", rief er und eilte los, um den jungen Mann abzufangen.
Tatsächlich hatte er Adano bald eingeholt.
„Adano!", rief er erneut und der Blonde drehte sich zu ihm um.
„Sirion", grüßte er ihn überrascht, der lachte freudig auf und schlug Adano auf die Schulter. „Was machst du hier?", fragte er grinsend, wurde aber sofort wieder ernst, als er Adanos besorgte Miene sah. „Was ist passiert?"
Adano holte tief Luft, dann wies er in Richtung Baumkrone.
„Ich bin auf dem Weg zu den Mondtöchtern. Mehrere Pilzfelder wurden befallen und sind plötzlich abgestorben", berichtete er mit ernster Stimme, „Auch Felder meiner Familie sind betroffen."
Geschockt sah Sirion seinen Freund an. Die Pilzzucht war die Haupteinnahmequelle von Adanos Familie.
„Wie geht es euch?", fragte er voller Sorge, „Wie schlimm ist es?"
„Wir sind noch glimpflich davon gekommen. Noch nicht einmal ein Viertel unserer Felder ist abgestorben. Wir kommen also über die Runden."
Erleichtert nickte Sirion. Adano jedoch runzelte die Stirn.
„Unsere Nachbarn hatten nicht so viel Glück. Fast ihre gesamten Felder sind befallen."
Mitfühlend streckte Sirion die Hand nach Adano aus und suchte nach aufmunternden Worten. Doch so recht wollten ihm keine einfallen.
Adano jedoch straffte sich. „Ich muss weiter", sagte er und mühte sich um ein zuversichtliches Lächeln, „Die Mondtöchter erwarten meinen Bericht. Pass auf dich auf, Sirion."
„Du auch", erwiderte Sirion und sah sorgenvoll seinem Freund hinterher.

Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende WaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt