Thorasal

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Stumpfsinnig stierte Thorasal in die Flammen des leise vor sich hin knisternden Feuers.
Draußen hatte sich schon längst die Nacht über die Lande gesenkt und lediglich das wärmende Feuer verhinderte, dass die Kälte des Winters in Dorans Höhle eindrang. Seine Hände hatte der junge Mann um einen tönernen Becher geschlungen, in dem sich noch ein Rest des Kräutertees befand, den sein Gastgeber regelmäßig für ihn kochte.
Der Tee war mittlerweile eiskalt, doch Thorasal hatte ihn sowieso nicht so recht beachtet.
Schweigend hatte er das einfache Abendessen zu sich genommen, den Kräutertee getrunken und nun wartete er darauf, dass Doran sich zu Bett begeben würde.
Der Alb überließ Thorasal nach wie vor das einzige Bett in der Höhle und schlief daneben auf einem Lager aus Mänteln und Fellen auf dem nackten Boden.

Schon seit mehreren Tagen war Thorasal stark genug, um das Bett wieder zu verlassen. Dank Dorans Pflege fühlte er sich von Tag zu Tag wieder kräftiger.
Doch seine Genesung brachte ihm keinerlei Freude.
Jede Nacht träumte er von seiner Familie. Und auch Neira flocht sich als stetig andauernder Schmerz durch seine Träume.
Warum war er ihr überhaupt begegnet?
Wenn er gewusst hätte, wie viel Schmerz ihr Verlust ihm bringen würde, wäre er da bei ihrem Treffen nicht besser sofort umgedreht?
Selbst im wachen Zustand verfolgten ihn die Erinnerungen, sodass er keine Ruhe fand.
Nein, er war nicht glücklich, noch am Leben zu sein.
Er hatte sterben wollen.
Und nun hatte er keinen Grund, weiter zu leben.
Alles hatte er verloren.

Doran hatte ihm angeboten, bei ihm zu bleiben, bis er sich vollständig erholt hatte. Sogar den ganzen Winter dürfte er bleiben, sofern er das wollte.
Mit einem knappen Nicken hatte er das Angebot angenommen. Wohin hätte er sonst gehen sollen?
Er hatte kein Ziel mehr. Weiter zu reisen, hatte keinen Sinn.
Und so verbrachte er seine Tage schweigend und wartend. Dabei gab es noch nicht einmal etwas, auf dass es sich zu warten lohnte.
Vielleicht würde er einfach eines Tages einschlafen und nie wieder erwachen.
Der Alte schien wohl zu merken, dass etwas seinen Gast quälte und mehrfach in den vergangenen Tagen und Wochen hatte er bereits versucht, ihn darauf anzusprechen. Doch Thorasal hatte verschlossen geschwiegen oder Doran scharf angefahren, er wünsche, nicht darüber zu sprechen.
Er hatte keinerlei Interesse an einem Gespräch mit dem Alten. Sollte dieser sein Mitleid und seine Anteilnahme jemand anderem geben, der dafür Verwendung hatte! Warum hatte er Thorasal nicht einfach liegen gelassen? Er hatte nicht darum gebeten, gerettet zu werden! Zumal er es auch nicht als Rettung empfand. Keine Dankbarkeit spürte er, wenn er zu dem Alten blickte. Nur Zorn und Trauer erfüllten ihn. Er wäre jetzt bei Neira, wenn Doran ihn nicht gefunden hätte.

Mit einem leisen Seufzen erhob Doran sich. „Ich werde zu Bett gehen", sagte der Alb, mehr zu sich selbst wohl, denn er hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass Thorasal kaum sprach.
Auch jetzt reagierte der junge Mann noch nicht einmal mit einem Nicken, sondern fixierte weiterhin das Feuer vor ihm.
Thorasal lauschte auf die Geräusche, während Doran sich für die Nacht fertig machte. Er machte keine Anstalten, sich ebenfalls zu erheben. Warum auch?
Vermutlich würde er wieder Alpträume haben, von Mutter oder Larina oder seinem Bruder und Vater träumen. Mittlerweile hatte er Angst davor, einzuschlafen. Fast jede Nacht erwachte er schweißgebadet und nach Atem ringend, während Doran besorgt auf ihn herabsah.
Nicht zum ersten Mal schoss Thorasal die Frage durch den Kopf, warum er sich nachts nicht einfach in die Kälte hinaus schlich.
Doch irgendetwas lähmte ihn, nahm ihm jede Kraft, einen Entschluss zu fassen, wie es weitergehen sollte.
Als ihm fast die Augen zufielen vor Müdigkeit, erhob er sich doch. Den Becher mit kaltem Tee ließ er einfach auf dem Tisch stehen, dann stieg er über den schlafenden Doran hinweg und ließ sich ohne weiteres aufs Bett fallen.
Einen Moment noch stierte er an die Höhlendecke, dann schlief er ein.

Mit einem gellenden Schrei fuhr Thorasal in die Höhe.
„Mutter!"
Sie war hier gewesen, eben war sie noch da!
Er streckte die Arme aus, sie durfte nicht gehen.
„Bleib hier!"
Doch Lopaka war nicht da. Dunkelheit umfing ihn, nirgendwo konnten seine Finger die Mutter ertasten.
Schluchzend krümmte er sich vornüber, um seine schmerzende Mitte zu schützen.
„Lass mich nicht allein!", wimmerte er und schlang die Arme um sich.
So deutlich hatte er sie vor sich gesehen. Doch sie war tot.
„Ruhig Junge, ruhig", hörte er eine Stimme neben sich. Doran war aufgewacht. Er konnte fühlen, wie der Alte sich neben ihn aufs Bett setzte und die Arme um ihn legte.
Unaufhaltsam strömten die Tränen über Thorasals Gesicht, während er immer und immer wieder „Mutter" stammelte.
Doran sprach kein Wort, sondern hielt ihn einfach nur fest.
Irgendwann versiegten die Tränen. Sein ganzer Körper schmerzte und voller Erschöpfung rang Thorasal nach Atem.
Noch immer hielt der Alte ihn im Arm und mit einem Mal war das Thorasal zu viel.
„Lass mich los!", rief er aus und schlug hart die Arme Dorans beiseite.
Aufgewühlt sprang er aus dem Bett und lief einige Schritte von dem Alb weg. Bebend holte er Luft.
„Du hast schlecht geträumt", erwiderte Doran ruhig.
„Lass mich einfach in Ruhe, hörst du?", fauchte Thorasal. Rastlos lief er im Halbdunkel der Höhle auf und ab, während Traumbilder und Erinnerungen vor seinem inneren Auge umher wirbelten.
Einen Moment lang schwieg der Alte und beobachtete ihn.
Dann durchbrach er erneut die angespannte Stille: „Wovon hast du geträumt? Es kann helfen, davon zu erzählen."
„Das geht dich nichts an!", keifte Thorasal, ohne ihn auch nur anzuschauen.
„Nun, es geht mich in sofern an, dass ich gerne wieder in Ruhe schlafen würde", erwiderte Doran mit einem leichten Schmunzeln in der Stimme.
„Dann hättest du mich vielleicht gar nicht erst hierher bringen sollen!", rief Thorasal zornig.
Er blieb stehen und starrte auf den noch immer sitzenden Alben hinab.
„Ich habe nicht danach gefragt, von dir hier aufgepäppelt zu werden! Wenn ich nun deinen kostbaren Schlaf störe, dann hast du das selbst verschuldet!", polterte er.
Oh wie er diesen Mann hasste!
Wie er diese elendige, gemütliche Höhle hasste!
Nur Doran war schuld, dass er sich so elend fühlte!
Der jedoch zog unbeeindruckt die Augenbrauen in die Höhe.
„Junge, ich habe dir das Leben gerettet. Eine gewisse Dankbarkeit wäre da vielleicht angebracht", sagte er schlicht.
„Nenn mich nicht Junge!", erwiderte Thorasal, „Ich bin lange kein Kind mehr! Du weißt nicht, was ich durchgemacht habe!"
Ein schwaches Lächeln huschte über Dorans Gesicht und ein Ausdruck voller Mitgefühl lag in seinen Augen.
„Nein, das weiß ich nicht, weil du dich auch weigerst, davon zu sprechen. Doch ich ahne, dass es Grausames gewesen sein muss.", sagte er leise, „Ich würde dir gerne helfen, Thorasal. Niemand verdient es, so zu leiden."
Heftig atmend wandte Thorasal sich ab. Er ballte die Fäuste.
„Ich will deine Hilfe aber nicht!", presste er hervor. Sein Blick fiel auf eine Tonschale, in der Doran sein Waschwasser aufbewahrte und voller Wut schlug er sie beiseite. Mit einem Scheppern zerbrach sie auf dem Boden.
„Warum hast du mich nicht einfach sterben lassen?", brach es aus Thorasal hervor, „Ich will deine Hilfe nicht, alter Narr! Ich hasse dich!"
Das freundliche Funkeln verschwand aus Dorans Augen und ein kalter Gesichtsausdruck zog sich über sein Antlitz.
Er richtete sich zu voller Größe auf und, obwohl er kleiner war als Thorasal, war er dennoch eine beeindruckende Erscheinung. „Ich halte dich hier nicht fest.", sagte er hart, „Dort ist die Tür, es steht dir frei zu gehen, wann immer es dir beliebt."
Einen kurzen Moment funkelten sie sich an, dann machte Thorasal auf dem Absatz kehrt und stürmte zum Ausgang. Er riss die Tür auf und trat nach draußen in die nächtliche Kälte.
Knallend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Die Kälte einer wolkenlosen Winternacht nahm ihn im Empfang. Leuchtend im Licht der Monde lag eine schneeweiße Ebene vor ihm. Kalt wehte der Wind ihm entgegen und blies sein langes blondes Haar zurück. Unschuldig funkelten die Sterne über ihm.
Schwer atmend stand Thorasal da, während das Blut ihm in den Adern rauschte. Er bebte vor Zorn und Verzweiflung. Die Erinnerungen schmerzten so sehr. Fest kniff er die Augen zusammen, doch die Bilder seiner Familie verschwanden nicht.
Was erdreistete Doran es sich, nach seiner Vergangenheit zu fragen?
Was verstand der Alte schon von seinem Schmerz?
Mit zorngefurchter Stirn starrte Thorasal in die Ferne, die Hände zu Fäusten geballt, während sein Innerstes kochte.
Die Minuten verstrichen und mit der Zeit beruhigte sich Thorasals Atem, langsam entspannte er sich und irgendwann verblasste auch der Zorn zumindest etwas.
Frierend schlang Thorasal die Arme um sich, da er die Kälte plötzlich deutlich spürte.
Warum hast du mich nicht einfach sterben lassen, seine eigenen Worte hallten ihm im Kopf nach.
Sollte er nicht einfach die Höhle Dorans verlassen? Es war kalt... Der Winter würde rasch für Vergessen sorgen.
Endlich kein Schmerz mehr...
Dann wäre er bei seiner Familie. Er würde Neira wiedersehen.
Doch Thorasal machte keinen Schritt. Bewegungslos stand er da, nicht in der Lage, sich zu einer Entscheidung durchzuringen.
Ich habe dir das Leben gerettet...
Plötzlich tauchte das lachende Gesicht Neiras vor ihm auf. Sie hatte so gerne gelebt. Immer war sie glücklich gewesen, hatte immer das Gute gesehen. Was würde sie sagen, wenn sie wüsste, dass er nun sein Leben fortwerfen wollte?
Eine einzelne Träne rann über sein Gesicht. Nein, er konnte es nicht.
Plötzlich fühlte er sich unglaublich erschöpft. Zittrig tastete er nach der Tür hinter sich und drückte sie auf.
Reichlich wackelig auf den Beinen stolperte er in die dunkle Höhle. Falls Doran noch wach war, kam von ihm kein Laut.
Ohne sich darum zu bemühen, zum Bett zu gehen, sackte Thorasal neben der geschlossenen Tür auf den Boden. Still flossen die Tränen, als er sich gegen die Wand lehnte und müde die Augen schloss.

Die Nachtelfenchroniken - Der sterbende WaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt