Mäuschen

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Alice wusste nicht, was sie sagen sollte.
Sie wusste nicht einmal, was sie überhaupt empfinden sollte.
Ein weiteres mal, in erschreckend kurzer Zeit, stand sie einfach nur da und war zu keiner wirklichen Regung fähig.
Aber das musste sie auch gar nicht.
Denn um sie herum, geschah genug für ein ganzes Leben.
Der breitschultrige Mann weinte nur noch leise vor sich hin. Er lag wimmernd am Boden und starrte fassungslos auf seinen blutigen Stumpf, auf dem vor Sekunden, noch eine fleischige Hand gethront hatte. In seinen Augen war nackte Panik zu erkennen, die Alice förmlich auf den Papillen ihrer Zunge schmecken konnte. Kupfern, leicht metallisch, als sauge man das Blut aus seiner eigenen verdreckten Wunde.
,,Und jetzt schlage ich vor, dass ihr allesamt verschwindet'', meinte der Geschminkte in einem unstreitig gelangweilten Tonfall. Dennoch war den Männern vollkommen klar, dass sie alle auf sehr dünnem Eis balancierten, was sich sogleich in seinen nächsten Worten niederschlug. ,,Bevor ich es mir doch noch anders überlege und euch alle gleich hier aufschlitze.''
Noch bevor die Lippen des Clowns die letzte Silbe geformt hatten, hatten sich die Männer, so schnell sie konnten, in Bewegung gesetzt und waren aus dem Wohnraum geflüchtet.
Nur der Verletzte saß noch, wie eine kaputte Marionette, ohne Fäden und Halt, allein auf dem Boden.
Der Schock lähmte seine Glieder.
Als er sich vor Jahren dazu entschlossen hatte dem Joker zu folgen, hätte er nicht im Traum damit gerechnet, dass er sich jemals in einer solchen Situation befinden würde. Natürlich hatte er um dessen unberechenbares Naturell gewusst, aber dass gerade er, der jede Aufgabe ohne Widerworte und immer zu seiner vollsten Zufriedenheit erledigt hatte, irgendwann einmal in Ungnade fallen könnte? Das hätte er niemals gedacht.
Und das auch noch ausgerechnet für ein dahergelaufenes Weibsstück.
Zugegeben, bei näherer Betrachtung konnte selbst er, der sich nicht viel darum scherte, wie das Gesicht einer Frau aussah -Hauptsache sie hatte eine ordentliche Figur, der Rest war im Grunde Nebensache- nicht leugnen, dass sie wirklich außerordentlich hübsch war.
Ihr dunkelbraunes Haar, sah weich und voluminös aus. Schulterlang, gerade die richtige Länge, um seine Finger darin zu vergraben, wenn man sie von hinten nahm.
Ihre Augen schimmerten klar und geheimnisvoll.
Aber es war nicht allein ihr Äußeres, das sie so attraktiv machte.
Es war ihr ganzes Gebaren.
Wie sie so dort stand, mit ihren blauen rehförmigen Augen, ihrer blassen Haut und ihrer zarten elfengleichen Figur, wirkte sie beinahe wie ein Wesen aus einer anderen Welt.
Einer Welt, die rein und so zerbrechlich war, die gleich einer Seifenblase, in jenem Moment zerbersten würde, da man seine Hand ausstreckte und sie berührte.

,,Hey!'', erzwang der Joker, mit einem mal, wieder die Aufmerksamkeit des dunkelhaarigen Mannes. Er war vor ihm in die Hocke gegangen. Sein Messer befand sich, scharf und glimmend, in seiner Hand, die leicht angewinkelt über seinem rechten Knie, wie ein tödliches Pendel, baumelte. Sein geschminktes Gesicht, war direkt vor seinem, so dass er keine Chance hatte dem stechenden Blick des Clowns auszuweichen.
,,Hier spielt die Musik, Joe. Weißt du'', schmatze er nachdenklich, ,,es wäre wirklich eine Schande dich zu töten, du warst immer ein loyales und vorbildliches Kerlchen. Zumindest für deine Verhältnisse. Aber, was macht man mit Hunden, die ihrem Herrchen nicht mehr gehorchen wollen?''
Der Joker neigte den Kopf zur Seite und sah den Mann fragend an.
,,...äh..ich...man...''
,,Genau! Guter Junge! Man schläfert sie ein. Oder man kastriert sie.''
Eine Schweißperle, rann über die Stirn des Mannes.
,,Ich, ich...es..''
,,Schon gut, schon gut, ich weiß. Es tut dir uuuuundenlich Leid und es wird bestimmt auch niemals nie wieder vorkommen'', übernahm der Joker das Reden für den verängstigten Mann. ,,Und ich rate dir auch, dass du deine Versprechen hältst, Joe-Boy, denn das nächste Mal, wirst du nicht ganz so glimpflich davon kommen, dann werde ich dir richtig weh tun müssen, hast du das verstanden?''
Der Anarchist redete mit seinem Handlanger, als wäre er tatsächlich ein kleines Schoßhündchen, dem er gerade beibrachte, wie man Sitz machte.
Alice konnte es kaum mitanhören.
Sie hielt sich nur zurück, weil sie das Ganze nicht noch schlimmer machen wollte.
Sam stand bereits auf ihrer Liste.
Sie wollte nicht für noch mehr Tode verantwortlich sein.
Das konnte sie im Augenblick einfach nicht ertragen.

Ein artiges Nicken, folgte einem trockenen Schlucken, erst dann, packte der Joker den Kerl am Kragen und warf ihn buchstäblich -samt abgetrennter Hand- aus dem Zimmer.
Nachdem dies geschehen war, ließ der Clown die Tür hinter sich ins Schloss fallen und schlenderte gemächlich zur Küchenzeilen, als wäre nichts weiter geschehen. Als hätte er nicht gerade einem seiner eigenen Leute damit gedroht, ihm die Eier abzuschneiden.
,,Hast du Hunger, Alice?'', fragte ihr Gastgeber, während er in den kargen Schränken nach etwas essbaren suchte, jedoch kaum fündig wurde. Er selbst, kam meistens nicht dazu etwas zu essen. Wenn, dann beschränkte er sich hauptsächlich auf Fast-Food oder simple unspektakuläre Mahlzeiten. ,,Wie wär's mit Pizza und Kakao?'', erkundigte er sich grinsend.
Alices Herz zog sich krampfartig zusammen.
Sie kämpfte mit der Fassung und dieses mal, gelang es ihr auch sie zu bewahren. Obgleich ihr Herz bittere Tränen vergoß.
Die blinde Frau atmete einmal tief durch und versuchte dann das Gespräch auf ein anderes, weniger schmerzliches Thema zu lenken, wusste jedoch nicht so wirklich, was sie sagen sollte.
Mit zittrigen Fingern, strich sie eine ihrer dunklen Locken hinters Ohr und setzte an:
,,Waren Sie bei Ihrer heutigen Arbeit erfolgreich?''
Der Clown hielt mitten in der Bewegung inne, drehte seinen Kopf in ihre Richtung und brach in schallendes Gelächter aus.
Seine gelben Zähne blitzen dumpf. An seinen pechschwarz umrandeten Augen, bildeten sich tiefe Lachfalten, so dass es beinahe so wirkte, als verliefe seine Schminke.
,,Oh Alice, Alice, Alice'', kicherte der ewige Witzbold heißer, nachdem er wieder ein wenig zu Atem gekommen war. ,,Du bist wirklich ein unberechenbares, neugieriges kleines Mäuschen'', nun drehte er sich komplett herum, um sie besser sehen zu können und lehnte seine Hüfte lässig gegen die Anrichte. ,,Du warst doch bestimmt immer die kleine Streberin, nicht wahr? Daddy's kleiner Liebling, die immer brav die Einserzeugnisse mit nach Hause gebracht hat. Dein Vater wusste doch bestimmt nie wohin, mit all seinem Stolz, hmm?''

Der Hohn, den er ihr entgegen schleuderte, war Alice nicht neu und reizte sie ebenso stark, wie beim allerersten mal.
Aber heute, löste er ausnahmsweise einmal nicht nur Wut in ihr aus.
Der Joker hatte natürlich Recht, Alice war schon immer eine Streberin gewesen.
Die ersten Bücher, die sie in die Hände bekommen hatte, waren die ihres Vaters gewesen. Philosophische Werke -von Aristoteles bis Schopenhauer.
Romane über Helden und Sagen, Drachen und Burgfräulein.
Aber am allermeisten, hatten sie immer die Werke über die menschliche Psyche fasziniert.
Das Wissen hatte sie schon immer angezogen. Und umso mehr sie davon bekommen hatte, desto mehr hatte sie gewollt. Kein Buch, kein wissenschaftliches Werk, war vor ihr sicher gewesen.
Aber das war es nicht, was sie nun, trotz ihrer wahnwitzigen Lage, zum lächeln brachte.
Es war die kostbare, ewig währende Erinnerung an ihren Vater.
Sie dachte an seine blauen Augen, die immer gestrahlt hatten, wenn er eines seiner Kinder gesehen hatte. An sein Lachen, das durch jeden Winkel ihrer kleinen Wohnung gehallt hatte, wenn ihr Bruder mal wieder einen seiner lausigen Witze erzählt hatte.
Doch vor allem, an seine Liebe, die für sie tausendmal wertvoller war, als jeder materieller Gegenstand es jemals sein könnte.

Das was Alice nun empfand, war etwas, was der Joker niemals verstehen würde. Zumindest nicht aus eigener Erfahrung. Vielleicht hatte er es einmal getan, das konnte Alice nicht beurteilen. Dafür kannte sie ihn nicht gut genug.
Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass er es jetzt noch konnte.
Was genau es ausgelöst hatte, wusste sie nicht, aber mit der Zeit war er zu jemandem geworden, der sich von den wahren Wundern dieser Welt nicht mehr berühren ließ.
Der nicht mehr erkannte, dass es weitaus erfüllenderes gab, als zu töten und andere zu quälen.

Der Joker, der Alices Mienenspiel ganz genau beobachtete, war, zugegebenermaßen, ein wenig zwiegespalten. Auf der einen Seite, war da dieser monströse, unbändige Drang, Alice zu zerbrechen. Und ihre Seele bis zur Unkenntlichkeit zu zerstören.
Dieser Teil wollte sehen, fühlen und schmecken, wie sie dem Wahnsinn verfiel.
Der wollte sie eigenhändig in den Abgrund stürzen.
Aber der andere, wollte genau das eben nicht.
Der bewunderte sie für all das, was sie verkörperte.
Der fand gefallen an ihrem eigenwilligen Wesen, ihrem Mut und ihrer einzigartigen Stärke.
So sehr er sich auch den Kopf darüber zermarterte, konnte der Joker sich nicht genau erklären, warum das so war. Es gab nur eins, das er mit tausendprozentiger Gewissheit wusste:
Sie beide, würden noch eine Menge Spaß miteinander haben.


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