Schlachtbank

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Maroni schrie.
Er schrie wie ein Schwein, das soeben realisiert hatte, dass es zur Schlachtbank geführt worden war. Mit blutender Augenhöhle, stolperte er von seinem Stuhl und kroch, hilflos wie eine Schabe auf öligem Untergrund, auf dem Boden entlang.
,,Willst du etwa schon gehen, Maroni?'', hörte man den Joker gackernd fragen, während er dem ergrauten Mann lässigen Schrittes hinterher trottete. Obwohl er den Italiener offen ins Gesicht lächelte, war jedem klar, dass die jetzige Situation jeglichen Witzes entbehrte. ,,Jetzt, da wir gerade so viel Spaß haben?'', dabei packte der Geschminkte den Mafiaboss am Kragen und zog in daran in die Höhe. Schwarze Augen und eine Klinge blitzten. ,,Sag mal, habe ich dir eigentlich jemals erzählt, woher meine Narben stammen?'' Obwohl der Italiener sie nicht wirklich hören wollte, er mit ganz anderen Dingen beschäftigt war, begann der Joker damit eine seinerGeschichte zum Besten zu geben, die jedoch nach nur wenigen, kurz angerissenen Anekdoten von jemandem unterbrochen wurde. Der Joker sah sich nach dem Übeltäter um und horchte auf, als er herausfand, dass es Alice gewesen war.
,,Jack'', hauchte diese ein weiteres mal. ,,Bitte, hör auf....es, es reicht.''
Mit schief gelegtem Kopf starrte der Clown die junge Frau eine Weile an.
Er blinzelte, er dachte nach und überlegte.
,,Ich glaube, du hast recht, Schätzchen'', stimmte er ihr schließlich zu. ,,Es reicht tatsächlich.''
Alice schloss unwillkürlich die Augen, als würde sie das vor allem weiteren schützen.
Als würde sie dadurch nicht hören, wie seine Klinge durch Maronis Kehle schnitt.
Als würde sie dadurch nicht seine gequälten gurgelnden Laute vernehmen.
Und als würde sie dadurch nicht wissen, dass er elendig an seinem eigenen Blut erstickte.
Es ist deine Schuld!, erhob sich eine Stimme in ihrem Inneren, während Alice nicht vielmehr tun konnte, als Maronis letzten Qualen zu lauschen. War sie die ihres Vaters? Ihres Bruders? Sams? All das Blut, all die Toten, es ist deine Schuld, Alice! Deine Schuld! Deine Schuld! Deine Schuld!

,,Äh, Alice?'', erst das Erklingen der Stimme des Jokers vermochte es, ihren inneren Tumult wieder etwas zu bändigen. Sie spürte das Leder seiner Handschuhe auf ihrer Wange, roch das Blut, das an seinen Fingern und nun auch auf ihrer Haut klebte. ,,Ich denke, du solltest vielleicht mal kurz an die frische Luft. Ich glaube ein Zimmer weiter ist ein Balkon, nicht dass du mir hier wieder ohnmächtig wirst.''
Allein für diese Anspielung hätte Alice dem Joker unter anderen Umständen eine kleben mögen, aber zum jetzigen Zeitpunkt hatte er vollkommen recht: wenn sie nicht bald zusah, dass sie aus diesem Raum herauskam, würde sie entweder zusammen brechen oder ihren gesamten Mageninhalt auf dem Linoleum verteilen.
Mit wackeligen Beinen nickte sie, dann machte sie sich auf, hörte noch im Hintergrund, wie der Joker seinen Leuten einige Befehle zu bellte und nach keinen zwei Minuten, hatte Alice den Balkon, von dem der Joker zuvor gesprochen hatte, erreicht.
Sie zog gierig die Luft ein, als wäre sie soeben von einem Tauchgang zurück an die Oberfläche gekommen.
Atme, Alice. Atme, ruhig und langsam, so wie ich es dich gelehrt habe, das war eindeutig die Stimme ihres Vaters. Aber sie klang viel ruhiger und sanfter, als die vorherige anklagende.
War sie nun doch noch dabei den Verstand zu verlieren?
Dass sie eigenwillig und aus der Sicht so manches anderen sonderbar war, war ihr durchaus klar, aber wachen, klaren Bewusstseins Stimmen bereits Verstorbener zu hören? Ging das nicht vielleicht doch ein wenig zu weit?
,,Vielleicht hat er es endlich geschafft'', sagte Alice zu sich selbst. ,,Vielleicht hat er es endlich geschafft, mich in den Wahnsinn zu treiben.''
Sie wollte weinen, sie wollte schreien, doch vor allem wollte sie, das, was sie im Moment fühlte, nicht mehr fühlen.
Das hat er nicht, widersprach die sanfte Stimme erneut. Und das weißt du auch. Du bist stark, wenn es andere nicht sind. Du bist immer noch du, Alice. Du bist immer noch hier. Du atmest und du lebst. Das was du jetzt durchmachst, ist die normale Reaktion eines normalen Körpers und Verstandes auf eine extreme und unkontrollierbare, äußere Situation. Du verlierst nicht den Verstand, er versucht lediglich das Geschehene und Erlebte bestmöglich zu kompensieren. Genau das macht dich menschlich und genau darin unterscheidet ihr euch. Du bist nicht wie er, Alice und du bist auch nicht wie alle anderen. Du bist du. Du bist anders, aber du bist immer noch du selbst.

,,Ich bin immer noch ich selbst'', wiederholte sie, im Einklang mit ihrer inneren Stimme.
Und trotz allem, brachte sie, gerade aufgrund dieser Erkenntnis, in diesem Moment, ein Lächeln zu Stande. Mit neu gewonnener innerer Stärke verließ sie die äußerer Welt und trat zurück in die des geschminkten Anarchisten.
Nach genau drei Schritten horchte sie auf.
Laute Stimmen, die aus dem Inneren des Gebäudes drangen, fesselten ihre Aufmerksamkeit und ließen sie ein wenig schneller gehen.
,,Lass mich los, du verdammter Bastard!'', hörte Alice, sobald sie die von ihr angestrebte Räumlichkeit betreten hatte, wie sich eine junge Frau lautstark gegen einen der Handlanger des Jokers zur Wehr setzte.
Dann der Joker höchstpersönlich: ,,Also, also, wer wird denn gleich handgreiflich werden. So läuft eben unser gutes altes Rechtssystem. So wie es aussieht hast du ein bisschen was mitgehen lassen. Und da der gute alte Maroni nicht mehr unter den Lebenden weilt, muss ich wohl das heutige Urteil fällen und das lautet...ah, Alice, da bist du ja wieder.'' Grinsend kam der geschminkte Richter zu ihr herüber geschlendert. ,,Was würdest du sagen? Eine belesene Frau von Welt. Schon die alten Griechen kannten bei Diebstahl kein Pardon, nicht wahr, Schätzchen? Soweit ich weiß, wurden Dieben gerne mal die Hände abgehackt.''
,,Wie ist dein Name?'', fragte Alice, sobald der Joker sie zu Wort kommen ließ und überraschte mit dieser Aussage mal wieder nicht nur ihn, sondern auch die angesprochene, ihr fremde, junge Frau.
Diese verengte ihre Augenpartie zu zwei schmalen Schlitzen, die ihren zarten Zügen kurzzeitig etwas katzenhaftes verlieh.
Die Sekunden rieselten wie Sand dahin.
Alice wartete.
Der Joker wartete – denn auch er war neugierig, wie sich das Szenario weiter entwickeln würde.
Und irgendwann antwortete die junge Frau der blinden Therapeutin.
,,Selina? Ein sehr schöner Name'', machte Alice der Diebin ein ehrlich gemeintes Kompliment.
Dann wandte sie sich an den Joker: ,,Du möchtest jemanden büßen lassen?'', fragte sie ihn und lenkte ihre grauen Pupillen direkt zu seinen dunklen Augen. ,,Dann werde ich für ihre Tat gerade stehen.''
,,Was?'', huschte es über seine rot verfärbten Lippen.
Ein wirkliches Lächeln brachte der Clown nicht hervor.
Ihr eigener, freiwillig gewählter Entschluss hatte ihn völlig überrumpelt.
,,Ich denke, du hast mich sehr genau gehört, Jack. Du möchtest jemandem die Hand abhacken? Dann nimm meine.''
Alice wusste, dass sie sich nicht in dem Raum befanden, in dem sie zu Anfangs gewesen waren. Doch fanden ihre suchenden Finger, nach kurzer Zeit, einen nahegelegenen Tisch auf dem sie ihre linke Hand ablegte, damit der Clown sein Urteil an ihr vollstrecken konnte.
Doch dieser war in diesem Moment weder zu einer wirklichen Handlung fähig noch dazu gewillt. Er stand wenige Schritte von seiner ehemaligen Therapeutin entfernt und starrte diese einfach nur an.
Es war nicht das erste Mal, dass er erlebte, dass Menschen auf die er traf zu extremen Taten bereit gewesen waren. Aber das hier? Sich wortwörtlich ins eigene Fleisch zu schneiden, um jemanden zu schützen, den man nicht einmal wirklich kannte? Das irritierte ihn weitaus mehr als Batman und das damalige Erlebnis mit den Frachtern zusammen.

Alice, die noch immer auf die Reaktion des Jokers wartete, entschied derweil selbst tätig zu werden und bat einen seiner Handlanger um eine entsprechende Waffe, woraufhin einer, der neuerdings eine Machete sein eigen nennen konnte, die er in Maronis Waffenlager gefunden hatte, nach einem kurzen Seitenblick zu seinem Boss, der noch immer regungslos war, Alice diese mit einem Schulterzucken anreichte.
Solange er die Sauerei nicht weg machen müsste, war ihm der Rest ziemlich egal.
Alice atmete einmal tief ein und wieder aus und wappnete sich innerlich gegen den bald eintretenden Schmerz, bevor sie die Waffe in die Höhe schwang, um dem Richterspruch eigenhändig Taten folgen zu lassen.
Es würde weh tun.
Es würde höllisch weh tun.
Vielleicht würde sie es nicht einmal schaffen, ihre Hand beim ersten Hieb komplett abzutrennen. Vielleicht würde sie kurz daraufhin das Bewusstsein verlieren.
Aber so oder so, wusste sie, dass der Joker sie nicht verbluten lassen würde.
Ganz gleich was folgen sollte, er würde sie nicht sterben lassen.
Denn dann wäre sein Spiel viel zu schnell beendet.
Wir werden spielen, Jack, dachte Alice und war, zu ihrer eigenen Verwunderung, innerlich, ziemlich ruhig. Aber ab heute spielen wir genauso nach meinen, wie nach deinen Regeln...
Und keinen Augenblick später, in dem sich die Gestalt dieses Gedankens wieder verflüchtigt hatte, sauste die Machete auf ihr Handgelenk hinab.


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