Die Dunkelheit war Alice nicht neu.
Sie war ihre Begleitern.Bei Tag und auch bei Nacht.
Sie hatte sie gelehrt, geformt, geprägt.Sie war so allgegenwärtig, wie die Luft in ihren Lungen.
So einheitlich, wie die Sonne und der Tag.
Und so präsent, wie ihr eigener stofflicher Körper.
Doch heute, zum allerersten mal, seit sehr langer Zeit, fürchtete sie sich vor dem Geheimnis ihrer unendlichen Ungewissheit.
Obwohl sie schon seit längerem wieder bei vollem Bewusstsein war, fürchtete sie sich davor ihre Augen zu öffnen und nichts zu sehen. Sie fürchtete sich vor der Stille.
Vor der Einsamkeit und der Gewissheit, was sie getan hatte.
,,Sam'', wisperte Alice, obwohl sie wusste, dass sie keine Antwort erwarten konnte.
Er war nicht hier, bei ihr.
Sie war allein.
In einem Zimmer, das weder Sam noch ihr gehörte. Und in einem Haus, das nach Tod und Moder roch. Das hier war keine gemütliche heimische Wohnung, in die man nach einem langen Arbeitstag freudig zurück kehrte; die Beine hochlegte und entspannte. Dies hier war eine Absteige sondergleichen. Allein gewählt, um darin zu existieren, nicht um wirklich zu leben.
Alice spürte es.
Sie spürte es in jedem Winkel.
Das hier, war die Brutstätte des Chaos: Das Heim des Jokers.
Wenn man es denn als solches benennen konnte. Alice konnte sich kaum vorstellen, dass der Joker hier gesellige Kaffeekränzchen hielt. Oder philosophische Plauderstündchen.
Oh, nein.
Hier plante er Morde, Tode und die Zerstörung tausender Existenzen.
Eigentlich war dieser Gedanke furchterregend:
Die Erkenntnis, wie viel Schaden ein einzelner Mann anrichten konnte.
Doch im Grunde wusste sie, dass dies kein Einzelphänomen war.
Solange es genug Menschen gab, die ihm folgten -aus welchen Gründen auch immer. Genügend, die er manipulieren konnte; solange er lebte, würde seine Schreckensherrschaft niemals enden.
Und er wird auch mich zerstören, dachte Alice nüchtern, als sie sich langsam und mehr als schwerfällig, in dem Bett, auf dem sie lag, aufrichtete.
Wenn Alice jemand anderes gewesen wäre, wäre sie vielleicht schon vor schierer Verzweiflung gestorben. Aber weil sie nun einmal Alice war, keine Sara, keine Anna oder Lara, würde sie es nicht tun. Sie würde aufstehen, weiter gehen und kämpfen.
Ja, er kann dich zerstören, meinte ihre Vernunft, in einem ruhigen, beinahe mütterlichen Tonfall. Er kann dir alles nehmen, was dir lieb und teuer ist. Deine Freunde, deine Familie, dein Heim.
Einfach Alles.
Ja, sogar dein Leben.
Deine Verzweiflung, würde ihn noch amüsieren. Er würde lachend daneben stehen und zusehen, wie du in den Abgrund stürzt. Wahrscheinlich, würde er sogar noch applaudieren.
Es gibt nur eins, das er nicht zerstören kann:
Und das bist du selbst.
Dein Innerstes. Dein Herz, deine Seele.
Alles was du bist und jemals sein wirst.
Die Essenz deines Lebens, gehört dir allein.
Dieses, in dir verborgene Geheimnis, kann er dir nicht nehmen.
Und das, würde sie auch niemals zulassen. Er konnte sie quälen, foltern, gar töten.
Doch diese eine Sache, würde sie vor seinen zerstörerischen Händen beschützen.
Alice schlug die Bettdecke zur Seite, plazierte ihre nackten Füße auf den zerschlissenen Teppichboden und versuchte, sich einigermaßen in dem fremden Zimmer zurecht zu finden. Sie hatte nichts zur Hand, was ihr dieses Unterfangen erleichtern könnte. Ihr Blindenstock war, soweit sich erinnern konnte, noch in ihrem Kittel, der sich, frisch gewaschen und gestärkt, im zerbeulten Spint der Anstalt befand.
Normalerweise betitelte Alice ihren ständigen Wegbegleiter, als ''eher lästig'', doch gerade heute, hätte sie viel darum gegeben, ihn bei sich zu wissen. Es war nicht so, dass sie nicht auch ohne ihn zurecht kam. Aber nun, hätte er ihr die Orientierung mit Sicherheit erheblich erleichtert, davon war sie überzeugt.
Nichtsdestotrotz schritt Alice weiter.
Sie ließ sich von ihren anderen Sinnen leiten.
Anstelle ihrer Augen, nahm sie ihre Hände zur Hilfe und tastete sich langsam weiter voran.
Ihre suchenden Finger wanderten über angeraute Wände, poröse, zersplitterte Türrahmen und glatte Tischoberflächen, bis sie an eine Treppe gelangte, die sie zu den tiefer gelegenen Räume führte.
Dort traf sie auf gähnende Leere.
Ruhige, friedvolle, trügerische Stille, die erst dann ihr wahres Gesicht zeigte, als Alice im heruntergekommenen Wohnraum auf vier Männer traf, die, sobald sie ihrer gewahr wurden, mit anzüglichen Fratzen auf sie zutraten.
Der ältere, hochgewachsene und breitschultrige Mann, nahm durch seine schiere körperliche Präsenz beinahe den gesamten Raum ein. Nach allgemeinen Maßstäben konnte man ihn als attraktiv bezeichnen. Sein Körper war muskulös, sein Gesicht markant, seine Augen von einem strahlenden blau.
Aber darin lag etwas furchterregendes.
Etwas animalisches und grauenhaftes, das beinahe entsetzlicher erschien, als die unergründlichen und seelenlosen Augen des Jokers.
Diese Männer hatten Dinge mit der jungen blinden Frau vor, die sie auf eine Weise verletzten würden, wie es die Taten des Clowns niemals könnten.
Alices einziger Vorteil war, dass sie lange nicht so hilflos war, wie sie auf dem ersten Blick erscheinen mochte. Selbstverteidigung, hatte sie notgedrungen und früh erlernen müssen. Eine Notwendigkeit, die gerade in Gotham für ein junges Mädchen so selbstverständlich war, wie das Pausenbrot, das sie täglich mit in die Schule nahm.
Ein trauriger Gedanke, aber überlebenswichtig.
Der fremde Mann, der davon natürlich nichts ahnte, konnte nur darüber staunen wie schnell und unvermittelt, ihr rechtes Bein, einen Weg in seine empfindsamen Weichteile gefunden hatte. Der Namenlose schrie vor Schmerzen auf und sackte dann in sich zusammen.
Dafür trat jedoch der nächste an seine Stelle.
Dieser nutzte die Tatsache, dass Alice die fremde Umgebung nicht so gut kannte und sogleich stolperte, als sie zurück weichen wollte, gnadenlos aus. Er reagierte schneller, als sein stämmiger Artgenosse, grub seine Finger in ihre dunklen Locken und zog die junge Frau daran in die Höhe.
Ihrer Kehle entrang sich ein gequälter Laut, als der Mann ihren Arm und Körper verdrehte, um sie vor seinen Leuten, wie ein Stück Fleisch zur Schau zu stellen.
,,Hey, bild' dir bloß nichts ein!'', rief der Dunkelhaarige, der derjenige gewesen war, der Alices Privatsphäre als allererstes verletzt hatte. ,,Erst will ich sie haben. Der Rest ist mir egal'', er kam wieder näher und hob ihr Kinn an. ,,Ich will dem kleinen Wildfang noch'n paar Manieren beibringen.''
,,Ähh, ich glaube, da muss ich dich leider enttäuschen. Der Einzige, der hier irgendjemanden irgendwelche Manieren beibringen wird, bin wohl ich.''
Der Joker.
Alice konnte sich nicht entsinnen, jemals so erleichtert gewesen zu sein, dass der Unruhestifter nun in ihrer Nähe war.
Auch wenn sie es gerne getan hätte, konnte sie es nicht leugnen, dass sie sich in einer Lage befand, aus der sie ohne fremde Hilfe nicht mehr entfliehen konnte. Wahrhaftige Hilflosigkeit. Ein Gefühl, das sie seit langem nicht mehr empfunden hatte. Das in einem Besorgnis erregenden Maße angestiegen war, seitdem der Joker wieder in ihr Leben getreten war.
Beide Männer ließen zeitgleich, mit dem Ertönen seiner Stimme von ihr ab und traten jeweils einen Schritt zurück. Es war ihnen anzusehen, dass sie verunsichert waren. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass ihr Auftragsgeber wieder so schnell von seinem heutigen Tatwerk zurück sein würde. Sie hatten gehofft ein wenig Spaß mit der jungen Frau haben zu können. Woher sie kam, wer sie war, interessierte sie nicht einmal. Ihre Körpchengröße, ob ihre eigenen groben Hände um ihre schmale Taille passten, ob sie schrie, wenn man sie fickte- solche Dinge wollten sie wissen.
Mehr nicht.
Ob sie es überhaupt wollte.
Ob ihr der Akt an sich gefallen, oder ob es sie anekeln würde, war ihnen vollkommen egal.
Gleichgültigkeit, Egoismus, Unmenschlichkeit, all dies waren Attribute, die die Gefolgschaft des Anarchisten auszeichnete.
Keine Einser-Zeugnisse, keine Doktortitel, keine Empfehlungsschreiben.
Langsam kam der geschminkte Clown näher, schien dabei die gesamte Szenerie in sich aufzusaugen. Er betrachtete jeden einzelnen, doch sein besonderes Augenmerk galt Alice.
Er wusste, dass sie wusste, dass wenn er nicht zum richtigen Zeitpunkt erschienen wäre, ihre Kleidung nun zerrissen auf dem Fußboden verteilt läge.
Und dennoch, obwohl diese unstreitige Tatsache schwer in der Luft lag, strahlte Alice auch jetzt eine gewisse tragische Anmut aus, die ihn immer wieder auf's neue faszinierte.
,,Soooo'', begann der Unruhestifter. Er überdehnte das Wort wie einen flexiblen Gummifletscher, zielte und feuerte ihn auf seine eigenen Leute ab. ,,Was sollte das werden, hmmm? Da ist man einmal nicht da und da feiert ihr gleich eine kleine Sause, so ganz ohne mich?'', er lächelte freudlos.
Nur einer tat es ihm gleich. Der dümmlichste von ihnen, der ein Pferd nicht von einer Kuh unterscheiden konnte. Aber auch dieser verstummte, als er langsam realisierte, dass das hier kein unterhaltsamer Witz werden sollte.
,,Damit wir eins gleich klar stellen: Der nächste, der es noch einmal wagt sie anzurühren, stirbt einen sehr langsamen und schmerzvollen Tod, haben wir uns verstanden? Ja? Gut, sehr gut!'', für einen kurzen Moment, erlagen sie alle der Illusion, dass die ganze Geschichte damit gegessen wäre- eine naive und mehr als klägliche Fehleinschätzung.
,,Was schlägst du vor, Alice?'', wandte sich der Joker an seine ehemalige Psychiaterin. ,,Was soll ich mit diesen unhöflichen Kerlen anstellen? Kehle durchschneiden? Oder vielleicht ihre Schwänze? Sie sind ja sowieso nicht zu viel zu gebrauchen.''
Die Gesichter der Männer, verloren mit einem Schlag all ihre Farbe.
Er tut es schon wieder, dachte Alice kopfschüttelnd, die es nicht sah, aber den Umschwung der Atmosphäre bemerkte. Er will mich schon wieder dazu zwingen über Leben und Tod zu entscheiden.
Die Liste wird immer länger, Alice, mischte sich das fiese kleine Stimmchen ungefragt, in ihren inneren Dialog ein. Nicht mehr lange und du schaffst es noch auf seine Stufe zu kommen. Du bist auf jeden Fall auf dem besten Weg dorthin. Ein Mord mehr oder weniger, was macht das schon? Verdient hätten sie es allesamt.
Das weißt du.
Aber wollte sie das?
Wollte sie, dass diese Männer starben oder verletzt wurden?
Die simple Antwort darauf war: Nein.
Sie wollte es nicht.
So wie es in der Natur des Jokers lag, zu töten und zu quälen. So lag es in ihrer, zu vergeben. Nicht, weil es diese Männer verdient hatten, sondern weil es irgendjemand tun musste. Weil Wut und Hass niemals die Antwort war.
,,Kannst du dich wieder nicht entscheiden, Alice?'', wollte der Joker wissen.
Sein Tonfall war beißend und provokant, wohl wissend, welche Reaktion seine Worte in ihr hervorrufen würden. Als er bemerkte, dass, wie erhofft, der Schmerz und die Trauer ihre weichen Gesichtszüge überschatteten, stahl sich ein breites blutrotes Lächeln auf seine entstellten, vernarbten Lippen.
Er spielte mit ihr und genoss jede einzelne Sekunde davon.
Wie ein kleiner Junge, der ein seltenes und rares Insekt gefunden hatte, machte er sich einen Spaß daraus, ihr die Flügel auszureißen.
Jede Regung, jedes Gefühl, das sie ungewollt vor ihm offenbarte, stahl er und schloss es in seinem finsteren Inneren ein.
,,Keine Sorge'', fuhr er fort, ,,ich will deine armen Nerven ja auch nicht überstrapazieren, ich glaube, du hattest erst einmal genug Aufregung für einen Tag. Nicht dass du noch vollkommen verrückt wirst'', schloss er grienend.
Dabei tätschelte er leicht ihre Wange, wobei sie glaubte, sich einzubilden, dass seine Finger ein wenig länger auf ihrer Haut verweilten, als es unbedingt nötig war.
Dann entfernte er sich von ihr und ging in dem Raum umher.
Sie hörte jeden Schritt, den er tat.
Jeden Atemzug, den seine Lungen nahmen.
Er ging weiter und weiter, bis er sich jenem Mann genähert hatte, gegen den sich Alice zuvor selbst zur Wehr gesetzt hatte.
Ein grellender schmerzerfüllter Schrei erklang.
Irgendetwas fiel zu Boden.
Etwas, das kein menschlicher Körper oder ein materieller Gegenstand war.
Ohne es sehen zu können, ohne wirklich zu wissen, ahnte Alice auch so, was geschehen war:
Der Joker hatte dem Mann die Hand abgehackt.
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Dämmerung
RomanceAlice White war schon immer ein wenig anders. Einzigartig, könnte man sagen. Eine Freidenkerin, die nicht immer jede Regel befolgte. Doch wie außergewöhnlich sie wirklich war, das sollte ganz Arkham Asylum noch herausfinden. [Joker x OC] (Anm.: Teil...