Indianerehrenwort

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Durch den Nebel seiner fahrigen Gedanken, registrierte Dr. Miller so langsam, dass Alice die angespannten Muskeln seines rechten Arms berührte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
,,Sam, hey, ist alles in Ordnung? Rede mit mir, was ist denn los?''
Dieses Mal sah der junge Doktor die junge Frau nicht an, als er sprach.
Er konnte nicht.
Er hatte das Gefühl, dass er keinen einzigen Muskel bewegen konnte.
Alles fühlte sich schwer und träge an.
,,Es ist, es'', er schluckte, seine Kehle war staubtrocken, ,,es ist eine Joker Karte.''
,,Oh'', war ihre erste Reaktion.
Dann ließ Alice ihre Finger ein weiteres Mal über die weichen Blütenblätter wandern.
Tja, wer hätte das gedacht, schmunzelte sie in sich hinein, ein Massenmörder, mit einem Sinn für blumige Ästhetik.
Sie musste einige der Worte laut ausgesprochen haben, denn sie konnte vernehmen, wie der Doktor scharf die Luft einzog und leise wisperte:
,,Das hier ist kein Spiel, Alice. Das ist tödlicher Ernst. Vielleicht weißt du es nicht, ich meine, woher auch? Aber fast jedes seiner Verbrechen, hat der Joker zuvor mit einer Joker Karte angekündigt. Sie waren oft an den unmöglichsten Orten zu finden, aber wo eines seiner Opfer war, war häufig auch eine seiner Karten nicht weit. Der Mistkerl signiert seine Werke gerne.''
Da hast du deine Antwort, flüsterte die fiese kleine Stimme in ihrem Unterbewusstsein. Du hattest Recht, dass in der Gasse war kein gewöhnlicher Kuss. Es war ein Abschiedskuss. Der Joker wird dich doch noch umbringen.

Diese Erkenntnis traf Alice nicht halb so schwer, wie sie geglaubt hatte.
Er war nicht so, dass sie ihr Schicksal unbedingt herausfordern wollte, aber wenn man in Gotham lebte, hatte man sich damit arrangiert, dass der Tod an jeder Ecke lauern konnte. Gotham war nun einmal das Pflaster der Gesetzlosen und seitdem Batman in der Versenkung verschwunden war, war alles nur noch schlimmer geworden.
Außerdem hatte Alice, als sie sich dazu entschlossen hatte in Arkham zu arbeiten und den Joker als ihren Patienten anzunehmen, bereits geahnt, worauf sie sich eingelassen hatte.
Sie sehnte sich zwar nicht danach, aber Furcht vor dem Tod, hatte sie ebensowenig.

Ihre anhaltende ruhige Akzeptanz, mit der sie ihr augenscheinliches Todesurteil hinnahm, ließ Sam den Blick in ihre Richtung heben. Er wollte etwas sagen, hielt jedoch abrupt inne, als er erst jetzt die rötlich schimmernden Würgemale an ihrem Hals bemerkte.
Das kleine Kärtchen, dass er in der Hand gehalten hatte segelte langsam zu Boden, als Sam sogleich auf Alice zutrat, um nachzusehen wie schwer sie verletzt war.
,,War das Harvey?'', fragte er flüsternd und berührte behutsam die roten Striemen, die ihre blasse Haut zeichneten.
Alice zuckte leicht zusammen und nickte zustimmend.
,,Ja, ich denke, ich habe einen wunden Punkt getroffen. Aber es geht mir gut, Sam, wirklich, mach dir keine Sorgen um mich.''
Was für eine Frage, natürlich machte Sam sich Sorgen.
Wie konnte er es auch nicht tun?
Erst eine Morddrohung des Jokers und jetzt das.
,,Oh, Alice'', meinte Sam matt seufzend, ,,manchmal wünschte ich, du wärst ein wenig zurückhaltender. Versteh mich nicht falsch, ich schätze deine Aufrichtigkeit, ich bewundere deinen Mut, aber ich glaube manchmal würde es dir auch nicht schaden, wenn du dir im entscheidenden Moment, lieber auf die Zunge beißen würdest.''
Sams wohlgewählte, leicht tadelnde Worte brachten Alice zum schmunzeln.
Im Grunde wusste sie, dass er Recht hatte. Sie neigte wirklich oft dazu über die Stränge zu schlagen, aber so war sie nun einmal.
Warum sollte sie sich verstellen oder vorgeben jemand zu sein, der sie nicht war?
Sollte der Joker sie wirklich als nächstes Opfer auserkoren haben, dann würde es sowieso keinen Unterschied machen, wie sie sich nun verhielt.
Und es war nicht nur beim ihm so.
Alice musste gestehen, dass sie bis jetzt noch keinem Menschen begegnet war, der so unberechenbar und gefährlich war, wie der Joker.
Doch im Grunde, gab es eine Sache, die sie alle gemeinsam hatten: wenn sie jemanden töten wollten, dann gelang ihnen das auch.
Und Alice war vollkommen klar, dass der Joker ein Mann war, den man -einmal den Entschluss gefasst- durch nichts in der Welt umstimmen konnte, seine Vision in die Tat umzusetzen.

,,Ja, ich weiß'', erwiderte Alice, lächelnd, ,,aber so bin ich nunmal, das weißt du ja.''
,,Ja, ein unverbesserlicher kleiner Sturkopf, der lieber mit offenen Armen in sein eigenes Verderben läuft, als auch nur einmal klein beizugeben.''
,,Ganz genau.''
Sam seufzte nur.
Er wusste nicht so recht, ob er nun lachen oder weinen sollte.
Alices Verhalten beeindruckte und erschrak ihn gleichermaßen.
Er war in seinem Leben noch auf keine Frau getroffen, die einen solch eisernen Willen besessen hatte. Die auf ihre eigene, ganz einzigartige Weise so unglaublich stark war.
Der Doktor rieb sich, mit Daumen und Zeigefinger, in kreisenden Bewegungen über seine Nasenwurzel, während er darüber nachdachte, welcher weitere Schritt wohl nun der klügste wäre.
Allzu viele Optionen blieben ihm nicht gerade.
Er konnte Alice wohl schlecht in irgendeinen Raum einsperren, den Schlüssel verstecken und hoffen, dass der Joker ihn niemals finden würde. Ebensowenig konnte er das Risiko eingehen, darauf zu hoffen, dass sich seine Vermutung vielleicht als ein Hirngespinst offenbarte und der Joker sich wirklich nur einen kleinen Spaß erlaubt hatte -was er bereits jetzt, während er nur darüber nachdachte, als äußerst unwahrscheinlich abstempelte.
Nein, für ihn gab es keinen Zweifel, dies hier war eine Drohung eines kaltblütigen Psychopathen, der keine Kosten und Mühen scheuen würde, um das zu tun, was er eben am allerbesten konnte: Chaos, Leid und Tod zu verbreiten.

,,Sag mal, Alice'', fragte Dr. Miller, nach einigen nachdenklichen Minuten. ,,Was hältst du davon, wenn du eine Weile bei mir unterkommen würdest? Vielleicht ist es so am sichersten für dich. Der Joker hat mich nur einmal gesehen und kennt mich nicht wirklich. Meine Wohnung liegt ziemlich weit, außerhalb der Stadt. Und sie ist geräumig genug für zwei'', fügte er noch hinzu, da er dachte, dass Alice dahingehend vielleicht irgendwelche Bedenken haben könnte.
Aber das hatte sie gar nicht.
Mangelnder Platz, würde die junge Psychologin keinesfalls stören. Auch nicht die Aussicht darauf mit Sam alleine in seiner Wohnung zu sein.
Sie vertraute ihm.
Mittlerweile, war er zu einem guten Freund geworden.
Was sie störte, war das Angebot an sich und das damit verbundene Risiko, dass er ebenso in die Schusslinie des Clowns geraten könnte.
Dass der Joker nur hinter ihr her war, damit konnte sie leben, oder eben nicht, je nachdem, was er so geplant hatte.
Aber Sam in Gefahr zu bringen?
Das konnte sie beim besten Willen, nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren.
,,Sam, ich weiß dein Angebot wirklich zu schätzen'', sagte sie daher, ,,aber ich kann es unmöglich annehmen. Allein die Vorstellung, dass du dich dadurch ebenso in Gefahr begeben würdest, würde mich nicht mehr ruhig schlafen lassen.''
,,Ich bin mir des Risikos durchaus bewusst, Alice, aber weißt du, ich kenne da eine sehr weise junge Frau, die mich einmal darauf aufmerksam gemacht hat, dass allein die Angst die Grenzen setze. Und indem ich sie als solche akzeptiere, könne sie mich nicht beherrschen. Im Gegenteil, so könne ich sie sogar zu meiner Stärke machen.''
Nachdem der Doktor mit seiner kleinen Rede geendet hatte, rollte die junge Ärztin sogleich mit den Augen.
,,Nicht zu fassen'', meinte sie beleidigt, ,,da passt man einmal nicht auf und dann wird man gleich mit seinen eigenen Waffen geschlagen.''
Sie zog kurzzeitig eine genervte Schnute, die sich bald in ein ausgedehntes Seufzen und der Annahme seines großzügigen Angebotes wandelte.
,,Aber du musst mir eins versprechen, Sam'', meinte Alice, mit ernster Miene, ,,wenn es hart auf hart kommt, musst du mir schwören, dass du nicht den Helden spielen und dein eigenes Leben auf's Spiel setzten wirst'', sie hielt ihren kleinen Finger in die Höhe. ,,Indianerehrenwort.''
Dr. Miller schnaubte belustigt, legte -von ihr ungesehen- Mittel- und Zeigefinger seiner linken Hand, hinter seinem Rücken über Kreuz und verschränkte dann seinen kleinen Finger mit ihrem.
,,Ok, Indianerehrenwort.''

DämmerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt