Wolf

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,,Möchten Sie wissen, was ich sehe?''

Der Joker hatte die Kette, die er um ihr Handgelenk geschlungen hatte, ein klein wenig gelockert. Dennoch waren sie einander noch immer so nah, dass sie beinahe dieselbe Luft einatmeten. Sie waren nur wenige Herzschläge voneinander entfernt.
,,Ich bin ganz Ohr'', raunte er leise, denn er war wirklich darauf gespannt, was sie zu sagen hatte.
,,Wenn ich daran denke, was ich alles über Sie gehört habe, was ich selbst spüre, wenn ich in Ihrer Nähe bin, dann sehe ich einen einsamen weißen Wolf, der allein in der Nacht umher streift. Stetig auf der Suche nach etwas, irgend etwas, von dem er glaubt es in der unendlichen Weite finden zu können. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er selbst das Ziel seiner endlosen Reise kennt.''
,,Hmmm'', machte der Joker und es klang beinahe wirklich wie ein Knurren. ,,Mir gefällt deine Denkweise, Schätzchen. Wirklich! Ein Wolf der durch die dunkle Nacht streift, klingt doch nach etwas! Aber wie sagt man so schön? Der Weg ist das Ziel, nicht wahr? Vielleicht sucht der Wolf überhaupt nichts. Vielleicht gefällt ihm seine Unabhängigkeit, die Möglichkeit zu tun und zu lassen, was er will. Seine Artgenossen zu zerfleischen oder sie dazu zu bringen es selbst zu tun. Und einsam? Warum sollte ich mich einsam fühlen? Ich hatte alles was ich brauchte: Sprengstoff, Benzin, Luft in meinen Lungen, und ich habe eine Idee in meinem Kopf. Eine Vision. Was sollte ich noch wollen?''
,,Haben Sie noch nie den Wunsch verspürt sich einer anderen Person anzuvertrauen?''
,,Ahhh, vertrauen'', sagt er, dehnte das Wort, wie ein Gummiband, ,,kann man in dieser Welt Niemandem, Schätzchen. Wenn es hart auf hart kommt, dann sind sie schneller weg, als du um Hilfe rufen kannst. All ihre Grundsätze, all ihre Versprechen, sind dann nicht mehr wert, als der Dreck unter ihren Fingernägeln'', erwiderte er und konfrontierte sie mit der schonungslosen Wahrheit. ,,Und wenn ich Hilfe brauchte, gab es immer genügend Leute.''
,,Ich spreche nicht von ihren Handlangern, Joker. Ich spreche von einer Person, der sie blindlings vertrauen können. Bei der Sie wissen, dass sie für Sie da ist. Was auch kommen mag.''
Der Clown konnte das Konzept zwar verstehen, er begriff was sie meinte. Aber es passte einfach nicht zu ihm.
Das wäre nicht das was er war.
,,Hast du so jemanden?'', stellte er die Frage, anstatt die ihre zu beantworten.
Ein sehr sanftes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Es stand ihr, es brachte ihre Augen zum leuchten.
,,Wohl eher hatte. Natürlich meinen Vater, vielleicht auch meine Mutter, aber sie starb kurz nach meiner Geburt. Aber vor allem meinen Bruder.''
,,Lass mich raten, auch tot?'', fiel er ihr ins Wort und begann zu kichern, es war ein äußerst grausamer Ton, der in ihren Ohren klingelte.
,,Soll ich es Ihnen nun erzählen oder nicht'', fragte sie, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte. Der Joker holte japsend Luft und sagte ihr, dass sie es tun solle.
,,Soweit ich weiß ist er nicht gestorben, aber er hat den Tod unseres Vaters nie verkraftet. Er gab sich die Schuld daran. An dem Abend, als es geschah hatten sie einen furchtbaren Streit, ich weiß nicht mehr genau was es war, komisch oder? Oft können wir uns später gar nicht mehr an die Dinge erinnern, die uns so einst so sehr in Rage brachten'', bemerkte sie. ,,Wie dem auch sei, sie stritten sich, er lief davon. Zunächst wollte mein Vater ihn in Ruhe lassen. Es war nichts neues für uns, dass er mal für ein paar Stunden wegblieb. Es war eine schwierige Zeit. Mein Augenlicht verschlechterte sich zusehends. Ich benötigte viel Hilfe und Aufmerksamkeit. Ich denke mein Bruder fühlte sich einfach nur ein wenig einsam und isoliert. Die Leute begannen nicht nur mich zu piesacken, sondern auch ihn. Aber er hat mich immer beschützt. Es gab einen Tag'', sagte sie und lachte kurz auf, ,,da kam er mit einem abgebrochenen Zahn nach Hause. Das werde ich nie vergessen. Er hatte sich mit einem der Jungs geprügelt, die mal wieder über mich hergezogen hatten. Aber dieses Mal war es schlimmer gewesen. Es waren anzügliche Bemerkungen gefallen, die eine elfjährige nicht hören sollte. Er war ein wenig aufdringlich geworden. Und mein Bruder stand am Abend, mit seinem abgebrochenen Zahn und einem blauen Auge in der Tür und sagte mir, dass der Kerl mich nie wieder belästigen würde, dafür hätte er gesorgt. Und ich war stolz auf meinen kopflosen mutigen Bruder, der für mich immer wie ein strahlender Ritter wirkte. Aber ich denke tief in seinem Inneren war es schwer für ihn, und ich kann es ihm nicht verdenken. Es war schwer für uns alle...''
Alices Gedanken schweiften ein wenig in die Ferne. Zu jenen Tagen, die weit in der Vergangenheit lagen, so weit zurück das manche von ihnen verblasst waren. Wie die Ecken eines Polaroids.

,,Und dann? Erzähl weiter'', forderte der Joker sie ungeduldig auf, ihre Geschichte zu beenden.
Alice blinzelte ein paar Mal, als sie sich für ihre kurze gedankliche Abwesenheit entschuldigte.
,,Wo war ich denn? Achja, also an jenem Abend, blieb mein Bruder länger fort als sonst. Sehr viel länger. Mein Vater begann sich ernsthafte Sorgen zu machen. Also sagte er mir, ich solle die Polizei rufen, wenn ich Angst bekommen sollte und lief dann in den Regen hinaus. Spät, nach Mitternacht, kam mein Bruder zurück, vollkommen durchnässt und reumütig, doch von unserem Vater fehlte jede Spur. Die Polizei, die wir letztendlich verständigten, fand ihn, ausgeraubt und tot in einer Gasse liegend. Zum sterben zurück gelassen. Ich werde niemals den Ausdruck in den Augen meines Bruders vergessen, nachdem er auf dem Polizeipräsidium die Leiche unseres Vaters gesehen hatte. Ich glaube in diesem Moment sah ich, aber verstand es noch nicht, was es bedeutete, wenn die Erwachsenen von einem gebrochenen Mann sprachen. An diesem Tag, als wir das Gebäude verließen, da hatte mein Bruder etwas in dem Obduktionsraum zurückgelassen. Er war nicht mehr derselbe, er veränderte sich, er liebte mich noch immer abgöttisch, das wusste ich. Aber es war einfach nicht mehr dasselbe. Er distanzierte sich von mir. Mit jedem Tag ein Stücken mehr. Bis wir uns nicht mehr erkannten.
Mit meinem heutigen Verstand kann ich objektiv betrachtete sagen, dass ich glaube, dass es daran lag, dass er meinen Anblick nicht mehr ertragen konnte. Nicht weil er mich hasste, sondern weil ich ihn so sehr an unseren Vater erinnerte und somit immer an jenen Abend, der zu seinem Tod führte. Er sah mich an und sah nicht seine Schwester, er sah eine grauenvolle Tat, die er überhaupt nicht begangen hatte. Er sah die Augen unseres Vaters, von denen er glaubte, das sie ihn anklagen würden. Kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag trennten sich unsere Wege. Er ging den seinen und ich den meinen. Bis heute habe ich nichts von ihm gehört. Aber ich hoffe, dass er lebt und das er glücklich ist und vielleicht eines Tages zu mir zurück findet.''
Der Joker konnte ihren Schmerz beinahe in der Luft um sich herum schmecken.
Es war ein Schmerz, der sie wie ein Brandmal gezeichnet hatte. Aber es war auch einer, der sie stärker gemacht hatte.
,,Und um ihre Frage zu beantworten: nein, momentan habe ich einen solchen Menschen nicht in meinem Leben. Aber dennoch ist dieses Band da, ich kann es Ihnen nicht wirklich erklären, aber ich spüre etwas, das mich noch immer mit meinem Bruder verbindet. Und auch mit meinem verstorbenen Vater. Sei es ein unsinniges Ding, wie ein Buch'', wiederholte sie seine verletzenden Worte. ,,Sei es ein Augenblick, an den ich mich erinnere, in dem ich erwachte und nur Dunkelheit um mich herum herrschte. Aber ich die Hand meines Vaters spüren konnte, und das so klar, dass ich auch jetzt das Gefühl habe, dass sie auf meiner Schulter ruht und mich stützt, wann immer ich zu fallen drohe. Es ist egal, was es ist. Das ist alles unwichtig und belanglos, was zählt ist das was ich in meinem Herzen trage. Und das kann niemand, auch Sie nicht, zerstören. Mit keinen grausamen Worten und Taten dieser Welt.''
,,Du hast ein ganz schön vorlautes Mundwerk für jemanden, der einer Person gegenübersitzt, die jeden Moment im Begriff sein könnte dich zu töten'', zischte der Joker, als er seinen Griff bis unermessliche verstärkte.
,,Dann tun Sie es'', forderte sie ihn doch tatsächlich heraus. ,,Tun Sie es, und Sie werden bemerken, dass es keinen Unterschied macht. Denn es gibt tatsächlich eine Sache, die Sie entweder nicht begreifen können oder wollen. Es wird immer Menschen geben, selbst wenn es nur einer unter tausend ist, die ein wenig anders als alle anderen sind. Die sich auflehnen werden. Und eine Spur auf dieser Welt hinterlassen werden. Denn solange es das Böse gibt, wird es auch das Gute geben. Solange Krieg herrscht wird der Frieden einkehren. Solange der Hass besteht, besteht auch die Liebe. Es gibt immer einen Ausgleich. So laufen die Dinge nun mal. Mutter Natur strebt nach Harmonie. Das ist ein Naturgesetz, gegen das auch Sie, als eines ihrer Extreme, nichts ausrichten können. Ob es Ihnen nun passt, oder nicht.''
Alice neigte ein wenig ihren Kopf zur Seite, ihre dunklen Locken bedeckten nun seine Hände. Doch der Joker nahm von alledem kaum etwas wahr.
Er sah nur das strahlende Blau ihrer Augen.
,,Vielleicht ist das Ende Ihrer Reise, der Wunsch, die ganze Welt brennen zu sehen'', flüsterte sie und schien ihn mit ihren nichtssehenden Pupillen zu fixieren. ,,Aber ich versichere Ihnen, der Tag wird kommen, an dem sich aus der Asche wieder das Leben erhebt.''

Oh, der Joker brodelte, er kochte regelrecht. So schnell, dass sie niemals hätte reagieren können befreite er ihr Handgelenk und umfasste stattdessen ihr Gesicht. Seine nächsten Worte, waren wie das Zischen einer Schlange.
,,Vielleicht reiße ich dir dann stattdessen lieber deine scharfe Zunge heraus, hm? Was hältst du davon? Sag es mir kleine Alice, wie würdest du das finden?''
Man konnte es Wahnsinn nennen, oder Torheit, vielleicht auch beides, aber irgendetwas sagte ihr, das er es nicht tun würde, selbst wenn sie es darauf anlegen würde. Sie erkannte etwas in ihm, was es war konnte sie nicht genau beschreiben, aber es war mehr als das, was er ihr eigentlich zeigen wollte. Also setzte sie alles auf diese eine Karte und entgegnete, ziemlich ruhig sogar:
,,Ich denke, das wäre ziemlich schmerzhaft und ich würde es nicht begrüßen, aber in Anbetracht der Lage in der ich mich gerade befinde'', sie versuchte sich ein wenig aus seinem Griff zu lösen, was er natürlich nicht zuließ, ,,werde ich Sie wahrscheinlich nicht aufhalten können. Also wenn es Sie glücklich macht, dann tun Sie es.''
Zuerst passierte gar nichts, doch dann warf der Clown den Kopf zurück und lachte aus vollem Halse. Sein Gackern sprang im Raum herum wie ein Gummiball.
,,Alice, Alice, Alice du hast wirklich Mut. Ein wenig töricht bist du auch, aber dafür wiederum hübsch. Dir müssen die Männer doch zu Füßen liegen, oder? Du kannst dich doch bestimmt kaum vor Verehrern retten. Sie müssen doch alle verrückt nach dir sein'', trällerte er, wissend das eine junge Frau wie Alice, es ziemlich schwer in der Männerwelt haben müsste.
Nicht nur weil sie blind war, sondern so eigenwillig, stolz und klug, das es die meisten Männer abschrecken dürfte. Es war die Gesamtkombination. Und es war ein Schlag unter die Gürtellinie, selbst für den Joker. Aber einem Mann, der kein Mitgefühl kannte, dürfte das wohl ziemlich egal sein.
,,Warum sagen Sie so etwas?'', flüsterte die blinde Frau, die ihre Kränkung nicht vollends verbergen konnte.
,,Aha'', sprang der Ungeschminkte sofort auf ihre Worte an. ,,Habe ich einen wunden Punkt getroffen? Kann das sein? Vielleicht, kleine Alice, bist du ja diejenige die sich einsam fühlt, die Nachts nach Hause kommt, und nichts als Leere vorfindet. Die.vollkommen.allein.ist.''

Dieses Mal war Alice diejenige die ihn anzischte, sie klang beinahe wie eine fauchende Katze.
,,Vielleicht haben Sie Recht, aber wenigstens habe ich einen Ort, den ich zu Hause nennen kann. Sie haben überhaupt nichts! Außer diesen kalten Wänden. Sie wissen nichts mit sich anzufangen, als die Menschen um sich herum zu verletzten. Mich zu verletzten. Wie ein kleiner Junge, der Spaß daran findet die Flügel eines Insekts auszureißen und zu beobachten wie sich das Tier unter Qualen windet!''
Ihr Atem ging stoßweise, ihr Puls raste, doch im selben Moment bereute sie ihre Worte. Nicht weil sie dachte das sie im Unrecht war, sondern weil es nicht ihrer Natur entsprach so zu sein, wie sie eben gewesen war. Weil sie eben nicht wie er war.
,,Es tut mir Leid'', hauchte sie. ,,Das war nicht richtig von mir. Sie sind wer Sie sind. Und das Sie hier sitzen war wahrscheinlich unausweichlich, aber es zu einer Waffe zu machen, ist unfair.''
Der Joker ließ seinen Daumen immer wieder über ihre Wange streichen. Er konnte nicht anders, er musste sie berühren.
,,Weil du heute eine so hervorragende Unterhaltungsquelle warst, will ich mal nicht nachtragend sein. Also, hopp hopp, Dr. Arkham vermisst dich sicher schon'', sagte er und überließ ihr genügend Freiraum, damit sie aufstehen und gehen konnte. Aber noch tat sie es nicht.
Er konnte stattdessen beobachten, dass sie wieder einmal ihre Locken hinters Ohr strich, sich mit der Zungenspitze über ihre leicht trockenen Lippen fuhr und sagte:

,,Ich werde noch einmal mit Dr. Arkham sprechen, damit Sie, wenn Sie es wünschen weiterhin an meinen Sitzungen teilnehmen können.''
Ihre ungestellte Frage hing in der Luft. Sie war greifbar wurde jedoch nicht von ihm beantwortet. Alice seufzte auf und wollte sich bücken um nach dem Buch zu suchen, das sie irgendwo auf dem Boden liegend vermutete.
,,Lass es'', sagte der Joker. ,,Es war doch ein Geschenk, oder nicht?''
Sie nickte.
,,Siehst du geschenkt ist geschenkt, wiedergenommen ist gestohlen.''
Alice gab sich alle Mühe es zu unterdrücken, aber dennoch stahl sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen, als sie schließlich den Raum verließ. Er bemerkte es natürlich. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, hob er das Buch selbst auf und las noch einmal das Zitat, das ihn so sehr gefesselt hatte.
Was für eine Frage, natürlich würde er weiterhin zu den Treffen gehen. Dafür war die kleine Therapeutin einfach viel zu interessant, als dass er sich diese Attraktion entgehen lassen würde.
Nein, das war wirklich undenkbar.

Nimm dich lieber in Acht, Alice. Nimm dich in Acht, vor dem großen bösen Wolf.

DämmerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt